Uristier
«Ds Gräis – eine ungeheuerliche Geschichte» - von Omar Gisler
Das Banner mit dem schwarzen Uristier auf gelbem Grund war einst in ganz Europa gefürchtet. In Uri ist der Stier noch heute allgegenwärtig, obwohl die Sage vom Ungeheuer auf der Surenenalp längst entzaubert ist.
Betrunkene sagen bekanntlich die Wahrheit. Doch in diesem Fall war es anders. Ob er denn nicht wisse, dass es die Bündner waren, die dem Stier von Uri den Ring in die Nase gelegt hatten, fragte der vom Wein beschwipste Zürcher Hans Rudolf von Wil den Urner Peter Gisler. Das war starke Tobak! Gesagt zwar in einer Beiz in Baden, gehört jedoch bis nach Uri. Die dortigen Behörden protestierten in Zürich umgehend wegen Beleidigung und Beschmutzung des Wappens und Ehrenzeichens von Uri. Die Zürcher mussten einlenken. Hans Rudolf von Wil landete für eine Woche im Zuchthaus und erhielt ein einjähriges Wirtshausverbot.
Stiere überall
Dieses denkwürdige Ereignis, das sich vor über fünfhundert Jahren zutrug, verdeutlicht zweierlei: Erstens hört bei den Urnern der Spass auf, wenn die Rede auf ihr Wappentier kommt, und zweitens, wie gross die Identifikation der Talleute mit dem Stier ist. Bei offiziellen Anlässen stossen sogenannte Harstmänner mit ihrer gelbschwarzen Tracht heute noch in das Harsthorn, dessen Dröhnen auf den Schlachtfeldern einst manch einem feindlichen Soldaten das Herz in die Hosen rutschen liess. Und auch im Alltag ist der Uristier im Reusstal allgegenwärtig. Die Urner lesen den Gratisanzeiger Uristier, sie trinken Stiär-Biär, grössere Events halten sie im Uristiersaal ab, kulturelle Verdienste honorieren sie mit der Verleihung des Goldenen Uristiers, die Ferien organisiert ihnen das Reisebüro Uristier-Reisen und wenn sie Lust auf etwas Süsses haben, beissen sie in einen Uristier aus Mandelgebäck. Über Letzteres schreibt die Confiserie Danioth in Altdorf: «Das Motiv des Uristiers als Modelgebäck ist in Uri weit verbreitet. Es braucht auch weiter keine Erklärung, sondern spricht für sich selbst.»
Für «Üswärtigi», wie die Urner ortsfremde Leute nennen, betreiben wir trotzdem ein wenig Aufklärung. Für die Herkunft des Uristierbanners gibt es zwei Erklärungen. Die wissenschaftliche Version besagt, dass es den Kopf eines «Ures» (wilden Stieres) darstellt, welchen die ersten alemannischen Ansiedler deshalb als Symbol wählten, weil sie ihr Land in einem Urzustand in Besitz genommen hatten. Ein Papst soll den Urnern dann nach einer Dienstleistung den Ring als Symbol der Zähmung als bleibendes Ehrenzeichen verliehen haben, weil sie sowohl die Wildheit des Landes durch Urbarmachung als auch die Wildheit der Sitten durch Annahme des Christentums besiegt hätten. 1243 wurde das Urner Landessiegel mit dem beringten Auerochsen erstmals erwähnt.
Ungeheuer oder Viehseuche
Die volkstümliche Erklärung hingegen nimmt Bezug auf die Sage «ds Gräis vo Suränä». Demnach soll auf der Surenenalp oberhalb von Attinghausen ein Hirte vor langer Zeit ein Lamm unnatürlich liebgewonnen und getauft haben. Ein ungeheuerlicher Frevel! Und so verwandelte sich das Lamm denn auch flugs in ein Ungeheuer, das weder Mensch noch Vieh verschonte. Erst ein fremder Reisender – oder je nach Version auch eine ältere, weise Frau – brachte Rat: Ein silberweisses Stierkalb solle sieben Jahre lang gesäugt werden, jedes Jahr von einer Kuh mehr, und so zu einem kräftigen und kampfgewaltigen Stier heranwachsen. Gesagt, getan.
Der Stier, ein Prachtexemplar, trat nach sieben Jahren den Kampf gegen das Ungeheuer an. Eine Jungfrau führte ihn an ihren Haarbändern auf die Surenenalp, wo das Gräis am heftigsten gewütet hatte, und die Prophezeiung erfüllte sich: Der Stier besiegte das Gräis. Doch auch für ihn endete der Kampf tödlich, hatte er doch am fortan Stierenbach genannten Bach seinen Durst zu gierig gelöscht. Zum Dank an die heroische Tat des Stieres verewigten ihn die Urner in ihrem Wappen, und aus seinem Horn wurde das gefürchtete Schlachthorn.
Während das furchterregende Dröhnen des Harsthorns auf den Schlachtfeldern verbürgt ist, darf bezweifelt werden, ob auf den Alpen rund um den Surenenpass früher tatsächlich ein Ungeheuer sein Unwesen trieb. Vielmehr glauben Historiker, dass das Gräis sinnbildlich für eine damals im Gebiet zwischen Attinghausen und Engelberg verbreitete Viehseuche steht – heute «Rauschbrand» genannt. Vor allem im 19. Jahrhundert wütete diese Seuche zum Teil äusserst heftig und raffte zahlreiches Vieh dahin. Der Arzt Karl Franz Lusser berichtete damals über die Seuche. Zwar gebe es verschiedene Krankheitssymptome, schreibt er, «aber nicht selten sind diese Erscheinungen unbemerkbar, indem das Vieh nach wenigen Stunden, ja selbst plötzlich, wie vom Schlage gerührt, dahinfällt».
Um eine Erklärung für die scheinbar aus dem nichts auftauchende Krankheit bemüht, glaubten im Mittelalter viele, eine dämonische Kraft – eben das Gräis – sei am Werk. Der Rauschbrand übrigens konnte erst dank einer regelmässigen Impfung eingedämmt werden. Der Verehrung des Stiers im Reusstal tat dies jedoch keinen Abbruch.
Eindrückliche Wanderung
Die rund sechsstündige Wanderung von Attinghausen über den 2292 Meter hohen Surenenpass nach Engelberg zählt zu den eindrücklichsten Routen der Innerschweiz. Dem Ungeheuer Gräis wird man auf der Tour höchstwahrscheinlich nicht begegnen, dafür bieten die Bauern entlang der Route frische Alpprodukte an.
Süsses oder Flüssiges
Wer das urbane Erlebnis dem Hochgebirge vorzieht, gönnt sich in der Confiserie Danioth in der Schmiedgasse 3 in Altdorf ein Uristier-Gebäck oder besucht die Stiär-Biär-Brauerei am Moosbadweg 14.