Cadenazzo
«Der Wald der Räuber» - von Omar Gisler
Die Wälder am Nordhang des Monte Ceneri wurden von Reisenden jahrhundertelang gefürchtet: Hier trieben Räuberbanden ihr Unwesen, die kein Pardon kannten. Die Ausnahme bildete der letzte Postkutschenüberfall.
Wer reist, hat viel zu erzählen – sofern er die Reise überlebt. Fahrten mit den Postkutschen, die bis zur Eröffnung des Gotthard-Bahntunnels 1882 zwischen Flüelen und Camerlata bei Como verkehrten, waren mitunter ein gefährliches Unterfangen. In den Tavernen und Herbergen entlang der Gotthard-Strecke sorgten nicht nur Erzählungen über Lawinen und Erdrutsche für Gänsehaut, sondern auch Geschichten über Raubüberfälle. Namentlich die bewaldete Einöde des Monte Ceneri war während Jahrhunderten als Tummelplatz von Räubern verrufen. Der Name des Dorfes «Robasacco», mitten in den Wäldern des Monte-Ceneri-Nordhanges, spricht Bände: «Roba“ bedeutet «Ware», «sacco» Sack, und wer den Einwohnern böse will, entdeckt im Ortsnamen sogar das Verb «saccheggiare»: plündern.
Auf alle Fälle war die Gegend allseits berüchtigt. In der «Erdkunde der Schweizerischen Eidgenossenschaft» von 1839 ist zu lesen: «Aus (der Magadino-Ebene) führt eine von Giulio Pocobelli vortrefflich gebaute Kunststrasse über den Monte Ceneri (Mont Kennel) oft durch düstere Kastanienwälder, die einst unsicher waren, weil nicht selten die Räuber ungesehen aus hohlen Bäumen auf die Durchreisenden schossen.»
Schutz oder Abschreckung?
Schon Anfang des 14. Jahrhunderts beschwerten sich Luzerner Kaufleute, die auf dem Weg zu einem Markt in Varese waren, beim Herzog von Mailand über die räuberischen Einwohner von Cadenazzo. Wer damals nicht gleich herausgab, was er mit sich trug, wurde übel zugerichtet: Ein Reisender, so die Klageschrift, wurde blutig geschlagen und einem zweiten die Hand fast gänzlich abgehackt. Gelegentlich arbeiteten die Räuber mit den Wirten in der Gegend zusammen, die die Augen fest schlossen, wenn zum Beispiel in einer Nacht sämtliche vierzig Pferde einer schweizerischen Handelskarawane ausgespannt und weggeführt wurden.
Auch als die Herrschaft über den Sottoceneri im Jahre 1512 an die Eidgenossen überging, besserte sich die Sicherheit am Ceneri nicht wesentlich. Aus dem Jahr 1750 weiss man, dass die Eidgenossenschaft ein Detachement von fünf Mann auf den Pass verlegte, um die Händler und Pilger zu schützen. Die bescheidene Streitmacht wurde freilich bald wieder eingezogen, denn die eidgenössischen Orte konnten sich, wie so oft, nicht über die Verteilung der Kosten einigen. Stattdessen setzten sie auf Präventionsmassnahmen, wie der Zürcher Seidenfabrikant Hans Conrad Escher 1795 in seinem Reisetagebuch schrieb: «Zur Abschreckung der Räuber, aber wahrlich nicht zur Beruhigung der Wanderer, sind die Schädel von allen hingerichteten Räubern längs der Strasse an den Stellen aufgesteckt, wo sie ihre Gewalttaten ausübten. Über ein Dutzend solcher schauerlicher Gegenstände fand ich über diese Bergstrasse hin zerstreut.»
Immer wieder riefen die eidgenössischen Landvögte im Tessin die einheimische Bevölkerung zu eigentlichen Treibjagden auf Bettler und Gauner auf, um den Briganten das Handwerk zu legen. Im 16. Jahrhundert ordneten die Behörden an, dass ein reumütiger Mörder begnadigt und wieder ins Land gelassen werden solle, wenn er einen anderen Banditen umgebracht habe. Von solchen wimmelte es damals, sie hatten Namen wie die Piraten der Karibik: Carbonaio («Köhler»), Tagliabrache («Kleiderschneider»), Barbanera («Schwarzbart»), Il Rosso («der Rote»), Fra Volpone («Bruder Grosser Fuchs»), Pelaboschi («Waldroderer») oder Cocagna («Schlaraffenland»). Die letzteren beiden sollen weniger wild als die anderen gewesen sein, was immer das auch heissen mag. Carbonaio und Fra Volpone landeten auf dem Schafott, Il Rosso wurde in einem Feuergefecht von Soldaten erschossen und Barbaneras Flucht über den Gotthard endete in Altdorf, wo man ihn einen Kopf kürzer machte.
Im Wilden Süden
Einer der letzten Überfälle auf Reisende wurde am 13. Oktober 1864 verübt – ein Postkutschenüberfall nach Wild-West-Manier. Der Postkondukteur Michael Danioth führte wie üblich die Nachtpost mit zehn Passagieren über den Ceneri. Um zwei Uhr früh stellten sich kurz nach Robasacco, wo die Strasse steiler und die Kutsche langsamer wurde, maskierte Räuber in den Weg. Ein Reisender, der sich wehrte, wurde niedergeschossen, und der Postillon Pietro Berta durch einen weiteren Schuss schwer im Gesicht verletzt. Alle Passagiere, inklusive Kondukteur Danioth, wurden gefesselt. Die Räuber nahmen ihnen Geld und Wertsachen ab, zogen aber von dannen, ohne das Wertvollste entdeckt zu haben: der Postsack für Mailand mit Wertsachen für über 23‘000 Lire war in einem Geheimfach gut versteckt.
Weit kamen die Räuber nicht. Vier von ihnen – allesamt Italiener – wurden verhaftet und 1866 in Como zu lebenslangen Zuchthausstrafen verurteilt. Der Anführer der Bande wurde ebenfalls rasch identifiziert: Es handelte sich um Costantino Genotti, der im Tessin als eine Art Robin Hood galt, seit er in der Leventina gestohlenes Vieh den Armen geschenkt hatte. Während des Überfalls beruhigte er einen verängstigten Jungen. Dieser erkannte in dem maskierten Anführer den Mann, der ihm einige Tage zuvor in einer Osteria in Ambrì Süssigkeiten geschenkt hatte. So kam es, dass Polizisten Genotti in der Wohnung seiner Schwester, die in Mailand einen Milchhandel betrieb, aufstöberten und an die Tessiner Behörden auslieferten.
Im Prozess stellte sich heraus, dass die Banditen ursprünglich alle Passagiere töten wollten, um keine Zeugen zu hinterlassen. Aber während des Überfalls habe Genotti bemerkt, dass er ausgerechnet die Postkutsche seines alten Bekannten Danioth erwischt hatte. Um seinetwillen habe er die Passagiere geschont und den Rückzug befohlen. Genotti wurde im November 1866 vom Geschworenengericht in Bellinzona zum Tode verurteilt, die Strafe aber in Zuchthaus umgewandelt; er starb 1878 im Alter von 47 Jahren im Gefängnis. Die Überlieferung berichtet, Michael Danioth sei in der Schreckensnacht vom 13. Oktober 1864 am Haupthaar völlig ergraut. Zumindest wurde das in den Tavernen und Herbergen entlang der Gotthardroute so erzählt.
Auf den Spuren der Banditen
Vom Bahnhof Cadenazzo führt ein acht Kilometer langer Themenweg durch die Kastanienwälder des Monte Ceneri. Sehenswürdigkeiten entlang der Via del Ceneri, auch Via dei Briganti genannt, sind die Mühle und Stampfe von Precassino in Cadenazzo, die Kirche San Leonardo in Robasacco, der Roccolo (Vogelfangturm) und das Radiomuseum auf dem Monte Ceneri – und natürlich die Strasse der Räuber.