Via delle Vigne

«Die Helden des Weinbaus» - von Omar Gisler

Die Arbeit der Winzer in den steilen, sonnenverwöhnten Rebbergen zwischen Gudo und Sementina ist mit so viel Mühsal verbunden, dass sie als heldenhaft gilt. Die Weine wiederum verdienen das Prädikat exzellent.

Die rechte Seite der Magadino-Ebene fristete lange Jahre ein touristisches Mauerblümchendasein. Bis findige Köpfe auf die Idee kamen, das Sementina-Tal mit einer 270 Meter langen Hängebrücke zu überqueren. Kaum waren 2015 die ersten Selfies vor dem tiefen Abgrund auf Instagram gepostet und die ersten Videos auf YouTube hochgeladen, avancierte die Einöde zu einem Touristen-Hotspot. Die Wegweiser zum «Ponte Tibetano», wie die Hängebrücke genannt wird, dominieren denn auch die Wanderwege der Region. Diese hält auch eine weniger bekannte, aber empfehlenswerte Alternative für Genusswanderer bereit: die Weinstrasse.

Die Via delle Vigne, so die offizielle Bezeichnung des Wanderwegs zwischen Gudo, Sementina und Monte Carasso, führt durch Kastanienhaine und Rebberge, in denen die Winzer aus zwei Gründen ins Schwitzen geraten. Erstens sind die Hänge sehr sonnenexponiert. Zweitens sind sie so steil, dass der Zugang schwierig und der Einsatz von Maschinen so gut wie ausgeschlossen ist. Nicht von ungefähr sprechen die Einheimischen ehrfürchtig von einer «viticoltura eroica», von einem heldenhaften Winzertum, wenn die Rede auf Weine der Region fällt.

Als Ausgangspunkt der Wanderung empfiehlt es sich, mit dem Bus vom Bahnhof Bellinzona nach Gudo zu fahren, einem 800-Einwohner-Dorf, das seit 2017 politisch zur Stadt Bellinzona gehört, in seinem Wappen mit den Trauben und dem Kastanienröstgitter aber weiterhin stolz auf seine landwirtschaftliche Tradition verweist. Die Via delle Vigne startet in Pian Marnino, wo sich die Bushaltestelle sowie die Tenuta Pian Marnino befinden. Hier produziert Tiziano Tettamanti seinen «Oro di Gudo» – einen von vielen ausgezeichneten Tropfen der Region. Schaut man, wer sonst noch die Trauben der Rebberge entlang der Via delle Vigne keltert, dann liest sich das wie das Who is who der Tessiner Winzergilde: Delea, Ramelli, Haldemann, Gauch, Rossi, Boetschi, Pestoni, Marcionetti, Antognini, Stucky, Tamborini, Kopp von der Crone oder Huber.

Viele dieser Familiennamen stellen für Deutschschweizer keine Zungenbrecher dar. Tatsächlich waren es ehrgeizige Zuzügler aus dem Norden gewesen, die Anfang der 1980er-Jahre aus dem süffigen, einfachen Tessiner Boccalino-Merlot einen charakter- und gehaltvollen Wein machten. Werner Stucky beispielsweise war der Erste, der einen Tessiner Barrique-Merlot erzeugte. Es war die Initialzündung für eine Trendwende, die dazu führte, dass die Tessiner Weine konkurrenzfähig wurden. Dass der Merlot bis heute das Angebot dominiert, verdankt der Kanton wiederum einem Italiener: Der Agronom und Pharmakologe Alderige Fantuzzi, Sohn eines Holzhändlers aus der Emilia Romagna, fasste 1902 den Auftrag, der Weinproduktion zu einer Renaissance zu verhelfen. Diese darbte, nachdem Rebkrankheiten wie der falsche Mehltau (Peronospora) und die Reblaus weite Teile der Traubenbestände im ganzen Kanton vernichtet hatten.

Fantuzzi pröbelte mit Sorten wie Pinot Noir, Cabernet, Barbera, Nebiolo und Merlot. Die aus Bordeaux importierten Merlot-Trauben erwiesen sich als früher reif, ertragskräftiger sowie krankheits- und fäulnisresistenter als die übrigen getesteten Sorten. Dies schienen gute Voraussetzungen für den Kanton, der wohl als Sonnenstube gilt, aber gleichzeitig bekannt ist für ausgiebige Niederschläge. Für Fantuzzi war deshalb klar: Der Merlot war die Sorte, die den Tessiner Rebbau aus seiner Krise führen würde. Die Geschichte sollte ihm recht geben: Heute bedecken die Merlot-Trauben über achtzig Prozent der Rebflächen – auch zwischen Gudo und Monte Carasso.

Die acht Kilometer lange Via delle Vigne führt in einem steten Auf- und Ab abwechslungsreich über Treppenwege, Waldpassagen und Saumwege durch das mit Trockensteinmauern terrassierte Gelände. Diese Terrassen verhindern, dass die Hänge erodieren und ins Rutschen kommen. Sie verhindern aber auch, dass die Weinbauern grössere Maschinen einsetzen können. Dem Ergebnis ihrer Arbeit tut dies jedoch keinen Abbruch, wie Sie bei einer Degustation in einem der vielen Weinkeller rasch herausfinden werden. Es ist die ideale Gelegenheit, um mit einem Trinkspruch die heroische Arbeit der Winzer zu würdigen. Prosit!

Durch Rebberge wandern

Die Via delle Vigne ist dank ihrer sonnigen Lage das ganze Jahr über eine attraktive Wanderstrecke, am schönsten im Übergang vom Sommer in den Herbst.

Fürs leibliche Wohl

Einkehren, Degustieren und Übernachten kann man in Agriturismi, etwa in der Fattoria L’Amorosa in Sementina oder in der Tenuta Pian Marnino in Gudo. Voranmeldungen schätzen die Winzer, denn es erleichtert ihnen die Vorbereitung des Besuchs.

Zum Selfie-Spot

Wer länger als drei bis vier Stunden wandern möchte, kann die Via delle Vigne mit einem Abstecher zum Ponte Tibetano verbinden.

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