Uri-Wasser

Uri-Wasser

«Prunkkammer Gottes und Irrgarten des Teufels» - von Omar Gisler

Föhnstürme, Hochwasser, Steinschlag, Lawinen: Das Urnerland fasziniert durch seine gewaltige Natur. Was für die Bergler ein jahrhundertelanger Überlebenskampf, ist für Bahnreisende ein Spektakel sondergleichen.

Dem Vierwaldstättersee eilt ein Ruf wie Donnerhall voraus. «Als Schauplatz der Tells-Legende und dank seiner atemberaubend schönen Landschaft zählt er zu den beliebtesten Ausflugszielen des Landes», kann man im Baedeker-Reiseführer über die Schweiz lesen. Als eindrücklichster Teil gilt der bis zu 200 Meter tiefe Urnersee, der sich ab Brunnen elf Kilometer Richtung Süden erstreckt. Ist der Vierwaldstättersee von einer sanften, in der Ferne verschwimmenden Bläue geprägt, so ist der Urnersee grün und herb. Wie ein tiefeingeschnittener Fjord liegt er zwischen steilen Ufern.

Aus dem bequemen Zugsabteil kann man erahnen, dass hier einst für Reisende der ungemütlichste Abschnitt der Gotthard-Route begann. Bis zur Eröffnung der Axenstrasse (1865) und der Gotthardbahn (1882) war der Passstaat Uri von der Aussenwelt abgeschnitten. Von Norden her war das Reusstal nur über den Wasserweg zu erreichen. Ein gefährliches Unterfangen! Denn der Vierwaldstättersee kann sich unter dem Einfluss von thermischen Fallwinden als tückisch und mörderisch erweisen. Nicht von ungefähr wird der Föhn im Volksmund als «der älteste Urner» bezeichnet. «Erst wer den föhngepeitschten See erlebt hat, kennt seine ganze überwältigende Grossartigkeit», schwärmt der Urner Dichter und Maler Heinrich Danioth (1896-1953). In seinem Werk «Steile Welt» schreibt er: «Der Föhn stürmt heran über die Gräte und erfüllt das Land mit seinem donnernden Geheul. Lotrecht fällt er in den See und zerplatzt auf seinem Spiegel, so dass die Wellen nach allen Seiten ausbrechen.»

Tell und das Wasser

Nachrichten von Schiffsunglücken, die mit dem Ertrinken der Passagiere endeten, reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück. Wilhelm Tell nutzte bekanntlich einen Föhnsturm, um das Ruder des Nauens zu übernehmen und sich mit einem Sprung ans Ufer abzusetzen. Bereits im Jahr 1388 wurde an jener Stelle in der Nähe von Sisikon eine Kapelle errichtet. Apfelschuss, Tellsprung, Gesslers Tod und der Rütlischwur sind die Sujets der vier Fresken, mit denen die Tellskapelle seit den 1880er-Jahren dekoriert ist. Während in den ältesten Chroniken Tell ebenso unvermittelt aus der Befreiungsgeschichte entschwindet, wie er aufgetaucht war, weiss die spätere Tell-Sage zu berichten, er sei 1354 bei der Rettung eines Kindes in Bürglen im wilden Schächen ertrunken. Nach Eduard Renner, dem Schöpfer des grossartigen Buches «Goldener Ring über Uri», ist das Geschick Tells auffallend eng an das Wasser gebunden: «Wie ein Wasserdämon steigt Tell aus den Fluten des Urnersees zur rettenden Tat. Im Sturm und im rasenden Spiel jener Wellen gelingt ihm die eigentliche Rettung und endlich versinkt er wieder als Greis, ein Kind rettend, in den Wellen des Schächens.»

Tatsächlich sind es die wilden Wasser, die Uri und seine Einwohner prägen. Seit Menschengedenken kämpfen die Talbewohner gegen die Naturgewalten, denen das Land ausgesetzt ist. Immer wieder standen sie gegen Lawinen, Felsstürze, Erdrutsche, Rüfen, Hochwasser oder Föhnstürmen auf verlorenem Posten. Nochmals Renner: «Dieses Wissen um Tod und Vergänglichkeit, diese ständige Bedrohung von oben, dieses Ausgeliefertsein an unerbittliche feindliche Mächte, die seinen kargen Lebensraum jederzeit verwüsten können, greifen bis an die Wurzeln seines menschlichen Daseins und haben entscheidend mitgeholfen, das schicksalsergebene, stoische Wesen des Urner Berglers zu prägen.»

Beispielhaft für diese stoische Gelassenheit sind die Einwohner von Sisikon, dem Dorf, das an der einzigen Stelle am Ufer zwischen Brunnen und Flüelen steht, die für eine Siedlung infrage kommt, auf dem Delta des Riemenstaldner Baches. Dank des milden Mikroklimas gedeihen dort Feigen und Kiwis. Allerdings sind nur 1,2 Prozent der Gemeinde Siedlungsfläche. Denn die Lage des Dorfes mit der Tellskapelle im Wappen ist exponiert. In den Jahren 1480, 1566, 1600, 1629 und 1762 wurde Sisikon jeweils komplett zerstört, als der Bach nach heftigen Regenfällen über die Ufer trat.

Glockengeläut gegen Naturkatastrophen

Ist es im Flyschgebiet des Unterlandes vor allem Hochwasser, das immer wieder grossen Schäden anrichtet, so bilden im südlichen Kantonsteil Lawinen das Schreckgespenst. Im Urner Lawinenatlas sind über tausend Lawinenkegel aufgeführt. Ein Blick auf die Lawinenverbauungen und Tunnels zwischen Erstfeld und Göschenen zeugt davon, wie aufwändig der Betrieb einer wintersicheren Bahn- und Strassenverbindung am Gotthard ist. Die Talbewohner waren sich dieser Gefahren stets bewusst. Sie bauten deshalb ihre Dörfer, Weiler und Wege an Orten ausserhalb der Gefahrengebiete.

Kam es trotzdem zu Katastrophen, machte man dafür oft Hexen und böse Geister verantwortlich. Doch auch gegen solch teuflische Kräfte wussten sich die Bergler zu wehren. Als eines der wirksamsten Mittel zur Dämonenvertreibung galt das Glockenläuten. Soweit der Schall einer Glocke reichte, waren die Geister gebannt und die Gegend vor Unheil bewahrt. Am Rand von Zonen, die durch Lawinen, Hochwasser, Rüfen oder Steinschlag gefährdet sind, findet man oft Kapellen, Bildstöcklein oder Kreuze. Häufig ist dort der heilige Christophorus abgebildet. Er ist nicht nur der Schutzpatron der Reisenden; als einer der vierzehn Nothelfer ist er auch, wie es in der Nothelfer-Kapelle in Silenen heisst, «für wasser noth» zuständig.

Auf himmlischen Beistand setzen aber auch im Urnerland immer weniger Leute. Das Element der demütigen Erduldung von Gottes unfassbarem Willen wich auch hier – wie die nach 1850 in Angriff genommenen Bachkorrektionen zeigen – zunehmend dem Motto: «Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott.» Diesen Grundsatz befolgte etwa auch der in Sisikon amtierende Pfarrer Franz Müller, der sich zur Abwehr von Hochwasserschäden nicht mehr allein mit Prozessionen, Fürbitten und Predigten begnügte, sondern sich an vorderster Front dafür einsetzte, dass der gefürchtete Riemenstaldner Bach einen grossen, festen Damm erhielt.

Dieses Bedrohliche und dennoch Faszinierende der Urner Bergwelt war es auch, das den einheimischen Künstler Heinrich Danioth, der unter anderem den roten Teufel an die Felswand in der Schöllenen pinselte, zu grandiosen Werken inspirierte. Wie kein zweiter hat er diese kraftvolle Spannung in der Landschaft erlebt, war sie ihm doch, wie er einmal schrieb, «für wahr Prunkkammer Gottes und Irrgarten des Teufels zu gleichen Theilen». Willkommen im Kanton Uri!

Urgewalt im Bild

Im Wartesaal des Bahnhofes Flüelen zeugt das Wandbild «Die Föhnwacht» von Heinrich Danioth von der Urgewalt, die der «älteste Urner», wie der Föhn genannt wird, entfachen kann.

Surfen oder beobachten

Für geübte Surfer stellen der Wind und der Wellengang auf dem Urnersee ideale Bedingungen dar. Gut beobachten kann man die Surfer vom Hotel Tellsplatte aus. Von dort führt ein Weg ans Ufer hinunter zur Tellskapelle.

Wandern statt fahren

Wer nicht mit dem Zug von Brunnen nach Flüelen fahren will, kann zu Fuss den 1991 anlässlich der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft eröffneten Weg der Schweiz beschreiten. Das Teilstück zwischen Brunnen und Flüelen ist 15 Kilometer lang.

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