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Das fabelhafte Val Piora

«Das Piora-Tal: Phänomenal und seenswert» - von Omar Gisler

Ein geteilter See, fleischfressende Pflanzen, giftige Flechten: das Piora-Tal steckt voller Geheimnisse. Unter Kennern längst kein Geheimtipp mehr ist der exzellente Käse, der in dem alpinen Hochtal produziert wird.

«Kein anderes Tal im Kanton Tessin geniesst einen solchen Ruf und zieht so viele Besucher an.“ Die Lobeshymne im «Geographischen Lexikon der Schweiz» aus dem Jahre 1905 bezieht sich nicht etwa auf das Verzasca- oder Maggia-Tal, sondern auf das Val Piora. Andere Regionen mögen inzwischen über eine grössere touristische Strahlkraft verfügen. Doch wer mit der ultrasteilen Funicolare von Piotta in das Hochtal fährt, findet sich in einer einzigartigen Seen- und Berglandschaft wieder.

Das alpine Paradies mit seinen 21 Seen, 58 Bergbächen, 28 Teichen und Sumpfgebieten verzückt nicht nur Ausflügler, sondern auch Wissenschaftler. Besonders angetan hat es ihnen der Lago di Cadagno. Auf den ersten Blick scheint der auf 1921 m ü.M. gelegene Cadagno-See ein ganz normaler Bergsee zu sein. Myriaden von kleinen Tierchen und Algen tummeln sich im Gewässer. Auch Fische gedeihen hier prächtig: Bis zu 30 Kilogramm pro Hektare ziehen die Fischer jährlich heraus, sechsmal mehr als in einem normalen Bergsee. Und doch nicht nur in Sachen Fischreichtum ist der Lago di Cadagno anders als andere Seen.

Fiktive Entdeckungsreise

Um herauszufinden, was den Cadagno-See so besonders macht, begleiten wir einen der Fische, die dem Ufer entlang nach Nahrung suchen, auf eine fiktive Entdeckungsreise zum Seegrund – fiktiv auch deshalb, weil der Fisch ums Leben käme, wenn er bis dorthin vordringen würde. Auf den obersten Metern fühlt er sich noch wohl in seiner kühlen, klaren, sauerstoffreichen Umgebung. Auf halbem Weg zum Seegrund, in elf Metern Tiefe, stösst er aber plötzlich auf rosarotes Wasser, in dem es keinen Sauerstoff mehr gibt. Der Fisch nimmt allen Mut zusammen und durchschwimmt diese Schicht, die nur einen Meter dick ist. Was er darunter findet, lässt ihn aber sofort umkehren: salziges Wasser ohne Sauerstoff! Der Fisch kann auf Tauchgang gehen, so oft er will: er findet jedes Mal die gleiche Situation vor.

Was ist los mit dem Lago di Cadagno? Es dauerte Jahrzehnte, bis die Forscher die Antwort fanden: Die stabile Schichtung entsteht, weil ständig Wasser unterschiedlicher Dichte in den See fliesst. Das oberflächlich zufliessende Wasser ist arm an Mineralien und weist deshalb eine niedrige Dichte auf. Auf dem Seegrund liegen hingegen Quellen, aus denen stark salzhaltiges Wasser in den See strömt. Dieses Quellwasser, das unter anderem Magnesium und Schwefelverbindungen enthält, stammt aus dem Dolomit der Piora-Zone – aus dem Gestein, das den Tunnelbauern des Gotthard-Basistunnels Kopfzerbrechen bereitet hat, weil es wie Zucker zerbröselt. Da das Quellwasser schwerer ist als das salzarme Oberflächenwasser, bleibt es am Gewässergrund liegen. Sauerstoff kann nicht in diese Schicht gelangen. Zwischen den beiden Wassern finden rote Schwefelbakterien optimale Lebensbedingungen vor: nämlich genügend Licht, Sauerstoffarmut und Schwefelverbindungen, die sie zur Energiegewinnung nutzen. Die Bakterien gedeihen so zahlreich, dass sie das Wasser rosa färben. «Krenogene Meromixis» nennen die Biologen das seltene Phänomen.

Obwohl sein Geheimnis gelüftet ist, sorgt der Lago di Cadagno nach wie vor für wissenschaftliche Schlagzeilen. So nahmen Forscher vor einigen Jahren den Schlamm am Seegrund unter die Lupe. Dabei entdeckten sie, wie sich organisches Material ohne Mikroorganismen in Vorstufen von Erdöl verwandelt. Ein kleiner Bergsee liefert so wichtige Erkenntnisse darüber, wie sich in den Weltmeeren Erdöl bildet. Die Forscher gehen davon aus, dass im Cadagno-See Bedingungen zu finden sind, wie sie auch während der Entstehung des Lebens auf der Erde herrschten. Es deutet daher vieles darauf hin, dass den bisher über 260 wissenschaftlichen Publikationen über den See und das Tal noch weitere Abhandlungen folgen werden.

Eine reiche Flora

Obwohl im Val Piora seit über zwei Jahrhunderten wissenschaftliche Forschung betrieben wird, «bleiben noch viele ökologische Fragen offen», schreibt das Centro di Biologia Alpina, das in drei uralten Alphütten beim Cadagno-See untergebracht ist. In Anbetracht der ausserordentlichen Biodiversität ist das nicht weiter erstaunlich. Inventarisiert sind 511 Gefässpflanzen sowie 400 Moos-, 172 Pilz- und 177 Flechtenarten. Letztere spielen bei der Datierung von Alphütten eine wichtige Rolle. Die olivgrüne Flechte Rhizocarpon geographicum (auch «Landkartenflechte“ genannt) beispielsweise besetzt die frischen Oberflächen silikatischer Gesteine wie Gneis, Granit oder Quarzit. Nach ungefähr 25 Jahren beginnen die Kolonien zu wachsen, und ihr Durchmesser nimmt zeitlich linear zu. Mit Gneis- und Granitblöcken errichtete Alphütten, die früher von Fischern benutzt wurden, konnten so in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts datiert werden.

Darüber hinaus gedeiht im Piora-Tal auch die Letharia vulpina, eine giftige Flechte, die auf Lärchenstämmen wächst. Früher wurde sie – der lateinische Name verrät es – zum Vergiften von Ködern benutzt, um so Füchsen und Wölfen den Garaus zu machen. Auch fleischfressende Pflanzen wie Fettkräuter wachsen im Piora-Hochtal. Sie halten Insekten und andere kleine Tiere fest und verdauen sie mit dem glitschigen Saft, der von Drüsen abgesondert wird. Früher verwendeten die Bauern die Basisblätter des Fettkrauts, die verdauungsfördernde Enzyme enthalten, um die Milch gerinnen zu lassen. Im französischen Namen «herbe caille-lait» kommt dieser ethnobotanische Gebrauch schön zum Ausdruck.

Aroma für den Käse

Alpwirtschaft wird in der Gegend schon seit Menschengedenken betrieben. Nutzungsverträge tragen das Datum vom 25. Mai 1227, sind also älter als der Bundesbrief. Sie beziehen sich auf die Alpe di Piora, die heute mit einer Oberfläche von 3500 Hektaren die grösste Alp im Tessin ist. Hier werden jährlich rund 3000 Laibe respektive 23‘000 Kilo Piora-Alpkäse hergestellt. Dessen Qualität ist legendär. Sie rührt vom aromatischen und würzigen Futter her, das die Kühe auf den Alpweiden vorfinden. Unter anderem gedeihen Kräuter mit besonderen Eigenschaften für die Milchproduktion. An erster Stelle nennen Biologen die «Erba del Burro» genannte Alpen-Mutterwurz, die auch als Heilkraut bekannt ist. Dazu kommen noch Kreuzblumen, der Gold-Pippau, der Alpine Wegerich und der Westalpen-Klee.

So hat der Erfahrungsbericht des Naturforschers Luigi Lavizzari aus Mendrisio nach wie vor Gültigkeit. Er schrieb 1863 über den Lago di Cadagno: «An jenen Orten, reich an üppigen Weiden, sieht man verschiedene Hütten, in denen hervorragender Käse gemacht wird, vielleicht der beste des ganzen Kantons …»

Reise zum Cadagno-See

In das Val Piora gelangt man mit dem Auto (Parkplätze beim Ritom-Stausee) oder der Funicolare Ritom ab Piotta. Ein 10,7 Kilometer langer biologischer Lehrpfad führt dem Ritom-See entlang zum Cadagno-See und zur Alpe Piora, wo es diverse Gasthäuser gibt.

Wissenschaft zum Val Piora

Auf der Webseite des Centro di Biologia Alpina finden sich zahlreiche Publikationen über den Cadagno-See, das Piora-Tal und seine biologischen Phänomene.

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