Das Unglück im Val Bedretto

«Die weisse Geissel» - von Omar Gisler

Mit seinem Romandebüt wurde Giovanni Orelli schlagartig berühmt. Das Buch über den Lawinenwinter 1951 ist eine Parabel für die Abwanderung, unter der Airolo bis heute leidet – obwohl die Lawinengefahr mittlerweile gebannt ist.

Mit einem Paukenschlag betrat Giovanni Orelli 1965 die literarische Bühne. Seinem Erstling «L’anno della valanga» (Titel der deutschen Ausgabe: «Der lange Winter») machte den damals 37-jährigen Bauernsohn aus dem Bedretto-Tal auf einen Schlag weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Als Vorlage für diese Erzählung diente ihm der Winter 1951. Bei Lawinenniedergängen kamen in den Schweizer Alpen insgesamt 91 Personen ums Leben. Besonders betroffen war das Gotthardgebiet: In Andermatt gab es am 20. Januar 1951 13 Todesopfer zu beklagen, und in Airolo konnten am 12. Februar 1951 zehn Personen nur noch tot aus den Schneemassen geborgen werden, nachdem kurz nach Mitternacht eine dreihundert Meter breite Lawine ins Tal gedonnert war und 18 Häuser, den Kindergarten und zwölf Ställe zerstört hatte.

«Der lange Winter» ist trotz seines tragischen Hintergrundes eine Liebeserklärung von Giovanni Orelli an das heimatliche Tal und dessen Menschen, deren bäuerlicher Alltag damals mehr und mehr von der modernen Zivilisation vereinnahmt wurde. Nüchtern schildert der Autor die Bedrohung eines Dorfes im Bedretto-Tal durch gewaltige Schneemassen und zeigt, wie «die vordergründige Realität sich allmählich in Versatzstücke auflöst und das Vertraute dem Unheimlichen weicht», wie die Literaturkritikerin Alice Vollenweider den Transformationsprozess beschreibt. Die Einheimischen müssen entscheiden, ob sie im Dorf bleiben oder wegziehen sollen. Bei dieser Diskussion verlieren die Alten, die Hilfe von Gott erwarten, an Einfluss; die Jungen setzen sich durch, voller Neugier auf das, was sie erwartet. Alice Vollenweider: «Giovanni Orellis Erstling ist in seiner einfachen lyrischen Intensität so gelungen, weil er als Abschied von der Jugend konzipiert war, als Distanznahme von der prekären Idylle der Bergbauernwelt.»

Tatsächlich zog es Orelli nach dem Katastrophenwinter in die Stadt. Im Gymnasium in Lugano unterrichtete er Literatur. Er war nicht der Einzige, der eine Luftveränderung vornahm. Bei der Volkszählung, die das Bundesamt für Statistik im Jahr 2000 durchführte, wies Bedretto den höchsten Anteil an über 65-Jährigen auf – die Jungen hatten dem Tal den Rücken gekehrt. Unter Abwanderung leidet auch die Nachbargemeinde Airolo: Lebten 1950 noch 2140 Einwohner im Dorf, so waren es 2018 bloss noch deren 1501. Bahn, Armee und Post bauten laufend Arbeitsplätze ab, und das Gastgewerbe entlang der Kantonstrasse erlebte nach der Eröffnung der Autobahn einen beispiellosen Niedergang. Die Jungen zog es in die Städte, nach Bellinzona, Lugano oder Zürich, wo es Jobs und Perspektiven gibt. Wer kann es ihnen verübeln?

Aus der Erinnerung geschöpft

Orelli beobachtete den schleichenden Niedergang seiner Heimat aus der Ferne. Als er Bedretto verliess, schwor der Ich-Erzähler seines Romans, er werde «lieber schweigen als rührende Elegien über sein Dorf“ zu schreiben. Geschwiegen hat Orelli nicht, aber seine nächsten Bücher sind von einem kritischen, engagierten Bewusstsein geprägt. So evozierte «La festa del ringraziamento» («Ein Fest im Dorf») die Heimsuchung eines Bergtals durch die Armee und setzte die Vernichtung des Viehbestands aufgrund der Maul- und Klauenseuche mit den Schrecken eines Völkermordes gleich. «Monopoly» wiederum zeigte die Schweiz im Würgegriff des Finanzplatzes und liess den gewissenlosesten Monopoly-Spieler, einen Spekulanten, am Ende in Dantes Inferno stürzen.

Rümpfte das Luganeser Establishment die Nase, wenn der im aufmüpfigen Partito Socialista Autonomo (links der SP) aktive Orelli allzu kritisch über die Bankiers und Treuhänder herzog, so hingen ihm alle gebannt an den Lippen, wenn er von seiner Kindheit in der Leventina erzählte. Das tönte dann etwa so: «In meinem Leben gab es zunächst nur mündliche Erzählungen. Wir hatten zu Hause ausser unseren Schulbüchern keine Bücher, die unsere Fantasie angeregt oder herausgefordert hätten. Als Ersatz gab es Spiele. Aber vor allem waren da die Gespräche im Gasthaus. Ich erinnere mich an die Worte eines Bauern, die mich sehr berührt haben. Eines Abends, bevor er in der Abendstille des bevorstehenden Lawinenunglücks nach Hause ging, sagte er zu seinen Kühen: Wenn ihr mich morgen früh nicht mehr seht … das Heu befindet sich dort oben.»

Aus diesem Anekdoten-Fundus schöpfte Orelli, als er «L’anno della valanga» verfasste, dessen Manuskript mit dem Premio Veillon ausgezeichnet wurde. Im Greisenalter erlebte er, wie das Theaterstück «Der lange Winter» 2013 im Teatro Sociale in Bellinzona Premiere feierte. Die Krone für sein literarisches Werk war ihm ein Jahr zuvor aufgesetzt worden, als er als vierter Autor aus der italienischsprachigen Schweiz mit dem «Grossen Schillerpreis» geehrt wurde, der höchsten Schweizer Literaturauszeichnung. Orelli starb im Dezember 2016 im Alter von 88 Jahren.

Fast zeitgleich feierten die Tessiner Behörden in Airolo den Abschluss des Lawinenschutzprojektes, das nach dem Katastrophenwinter 1951 initiiert worden war. Auf den steilen Hängen oberhalb des Dorfes wurden im Laufe der Jahrzehnte insgesamt 17‘474 Meter Netze und Verbauungen und drei riesige Auffangbecken errichtet sowie 57‘000 Rottannen gepflanzt. Kostenpunkt: 60 Millionen Franken. Absolute Sicherheit könne er nicht versprechen, räumte der Tessiner Regierungspräsident Marco Borradori ein. «Aber die Einwohner von Airolo können nun im Winter ruhiger schlafen als in der Vergangenheit.»

Lesenswert

Die Neue Zürcher Zeitung zählt Giovanni Orelli «zu den kühnsten, doch auch zu den heitersten Poeten dieses Landes». Die Schweizer Literatur wäre «ohne die melancholische Anarchie seiner Gedichte und seiner Prosa» definitiv ärmer. Orellis bekannteste Werke sind in deutscher Sprache im Limmat Verlag erschienen. Besonders empfehlenswert sind «Der lange Winter», «Monopoly» und «Walaceks Traum».

Höhenwanderung

Einen schönen Blick auf die Lawinenverbauungen erhält man bei der Höhenwanderung von Airolo-Pesciüm nach Bedretto.

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