Ticino Flussfahrt

Ticino

«Alles im Fluss» - von Omar Gisler

Die Riviera zwischen Biasca und Bellinzona gilt als «Korridor zum Süden». Die schönsten Aussichten hat man bei einer Flussfahrt auf dem Ticino.

Nach dem Zufluss des Brenno aus dem Blenio-Tal wird der Ticino, der dem Kanton den Namen lieh, ein veritabler Fluss. Er schlägt zwar noch einige Wellen, ist aber kein richtiges Wildwasser mehr und daher geeignet für Flussfahrten mit Schlauchbooten oder Kanus. Ideal geeignet für Anfänger, Geniesser, Familien und Schulklassen. Das blaugrün schimmernde, klare Wasser des Ticino sucht sich in einem breiten Schotterbett seine verzweigten Wege. Es entstehen Inseln und weite Strände, wo man anlegen und sich genüsslich von der südlichen Sonne bräunen lassen kann. Dazwischen bietet der Ticino zwischen Biasca und Bellinzona dank seinen langgezogenen Kurven ein herrliches Panorama auf die umliegende Bergwelt. Die Kulissen des Landschaftstheaters ändern sich laufend und können dank der geringen Strömung sorglos aufgenommen werden.

Die Einsamkeit des Strandes

Sobald man losfährt, wird klar, woher der klangvolle Name des Bezirks «Riviera» stammt: Von den unzähligen Wildbächen und Flüssen, die mit unbändigender Kraft aus den schroffen Seitentälern in den sanften Ticino schiessen als wäre er das weite Meer. Auf ihren Schuttfächern gruppieren sich die Dörfer, gesäumt von Rebland und umgeben von Kastanienwäldern. Die perfekte Strecke für die sommerliche Kanufahrt. Doch wo die Sonne geizt, dauert der Winter etwas länger. Etwa im Val Lodrino, einem Seitental, das die Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) als «extrem remote Gegend» einstuft. Nicht mal Fuchs und Hase sagen sich dort gute Nacht. Wer die Einsamkeit sucht, kommt in diesem Tal mit seinem Urwald und den schroffen Felswänden auf seine Kosten: Im Val Lodrino gibt es elf weitverstreute Hütten ohne Wart, zu manchen wandert man von Lodrino aus acht Stunden und länger. Diese mühsam zu erreichenden Alpen zeugen davon, dass die Riviera bis weit ins 19. Jahrhundert hinein zu den ärmsten Regionen des Kantons zählte. Immer wieder überschwemmte der Ticino das Gebiet. Die beiden Talseiten waren sich deswegen fremd. Zu gross war die Distanz, zu unüberwindlich Sumpf und Ödland. Ausserdem fehlten Brücken über den Fluss. Und doch gibt es ein verbindendes Element: der Granit. Beide Talseiten sind steinreich. Davon profitierte die Region, als Ende des 19. Jahrhunderts die Gotthardbahn gebaut wurde. Der Abbau von Granitgneis ist heute noch der wichtigste Gewerbezweig. Riesige Steinbrüche am linken und rechten Ufer zeugen davon. Wenn es knallt, dann wissen Sie, dass die Steinmetze dem Berg wieder einen Granitblock abgetrotzt haben.

Fels für Brücken und Teller

Mit einem Knall, der grollend im Bruch nachhallt, lösen sich grosse Quader aus der Wand. Sechzig Millionen Jahre alte Masse wird gestückelt, gespalten, zersägt, roh behauen und geschliffen. Granit ist unverwüstlich. Während Beton schnell sanierungsbedürftig wird, haben die Brücken und Trassees der Gotthardbahn und der Strasse über hundert Jahre unversehrt überdauert. Der Granit von Lodrino kommt aber nicht nur bei Infrastrukturprojekten zum Einsatz, sondern wird von der lokalen Steinbaufirma Giannini Graniti SA auch zu Gartentischen und Grills, sowie zu Sofas, Tellern, Flaschenhaltern, Uhren und überhaupt zu Allem weiterverarbeitet, das sich aus Granit herstellen lässt. Es ist daher kein Wunder, zieren Hammer und Meissel das Wappen des Dorfes!

Fisch- und Vogelperspektive

Kurz nach dem Steinbruch fährt das Kanu an einem Flughafen vorbei. Von hier hob am 11. Juli 1939 der Italiener Giovanni Bassanesi zu einem Flug über die Alpen ab. Niemand würde das interessieren, wenn er nicht kurz zuvor einen Skandal verursacht hätte, als er über Mailand 150‘000 antifaschistische Flugblätter abwarf. Auf dem Rückflug seiner Alpenquerung musste er dann wegen schlechten Wetters auf dem Gotthard notlanden und brach sich dabei das linke Bein. Die Schweizer Behörden nahmen ihn fest und verurteilten ihn kurz darauf wegen eines Verstosses gegen irgendeine Luftfahrtvorschrift zu vier Monaten Gefängnis.

Weniger hochfliegend aber näher bei Gott thront etwas weiter flussabwärts das Benediktinerinnenkloster Santa Maria Assunta. Der Standort auf einer Felskuppe hoch über Claro wurde mit Bedacht gewählt: Im Gegensatz zu den Zisterziensern, welche die Ruhe von abgelegenen Tälern suchten, zog es die Benediktiner seit jeher hoch hinaus: «näher mein Gott zu Dir». Die Wahl fiel auf einen schwer zugänglichen Standort, wo bereits vorher ein Kirchlein gestanden hatte. 1490 konnte das Kloster, das mit seinen Wirtschaftsgebäuden die Ausmasse eines kleinen Dorfes angenommen hat, eingeweiht werden. Kriege und Enteignungen durch den Staat haben den weltlichen Besitz der Nonnen zwar stark schrumpfen lassen, doch ihr Wille, die Gemeinschaft am Leben zu erhalten, blieb davon unbeeindruckt. Bis heute huldigen die Benediktinerinnen von Claro mit Blick übers Tal dem Ordensmotto «ora et labora».

Kanuland

Auch beim Paddeln auf dem Ticino kann man diesem Motto nachleben, denn hier entfachen Sandstrände, Berge, Cappuccino, Palmen und ganz viel Sonne zusammen ein einmaliges Erlebnis mit mediterranem Lebensgefühl in alpiner Bergkulisse. Dabei bleiben die Transitströme hinter der dichten Ufervegetation verborgen und man kann ungestört seinen Blick über die Gipfel und Felswände schweifen lassen.

Je näher man der Agglomeration Bellinzona kommt, desto mehr mutiert das lange Zeit unberührte Ticino-Ufer zum Naherholungsgebiet: Jogging-Strecke, Hundepiste, Spazierweg – und Badeparadies. Beim Zusammenfluss des Ticino und der Moesa hat sich ein Sandstrand gebildet, wo es im Sommer hoch zu her geht. An der Bar herrscht ein Betrieb wie in Rimini oder Viareggio: Cocktails, DJ‘s, Dolce Vita. La spiaggietta di Arbedo ist der «Place To Be» des Tessiner Sommers, schreibt Ticino Turismo. Höchste Zeit also, um hier anzulegen und die Flussfahrt bei einem gemütlichen Apéro Revue passieren zu lassen.

Kanutouren auf dem Ticino

Geführte Touren auf dem Ticino starten jeweils in Cresciano; die Fahrt endet meist in Arbedo.

Klosterleben

Zum Kloster Santa Maria Assunta gelangt man zu Fuss oder mit einer Seilbahn. Die Ordensschwestern verkaufen selbstgemachte Produkte wie Honig oder Biskuits.

Tessiner Stein

Souvenirs aus Granit kann man bei Giannini Graniti in Lodrino oder bei Ongaro Graniti in Cresciano erwerben.

Die Einsamkeit des Tessins

Wer sich für das Val Lodrino und andere abgelegene Gegenden interessiert, findet auf www.wsl.ch die Studie «Faszination Remoteness – Wandern in entlegenen Tälern der Südschweiz» von F. Boller.

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