Tenero
«Den Bogen raus» - von Omar Gisler
Kurvenförmige Tunnels und Talsperren waren das Markenzeichen des Ingenieurs Giovanni Lombardi. Eine seiner Symphonien aus Beton ist derart atemberaubend, dass sie als Filmkulisse Weltruhm erlangte.
Mehr Action geht nicht. Um in eine fiktionale Chemiewaffenfabrik in Archangelsk in der Sowjetunion einzudringen, springt James Bond im Film Goldeneye von einem Damm in die Tiefe, festgehalten an einem Seil. Schier endlose dreizehn Sekunden lang fällt er, ehe er den Zielort erreicht hat. In Tat und Wahrheit hing nicht Bond-Darsteller Pierce Brosnan am Seil, sondern der britische Stuntman Wayne Michaels, und sein freier Fall dauerte in Wirklichkeit bloss 4,5 Sekunden. Dann hatte er das Ende der 220 Meter hohen Verzasca-Staumauer erreicht. Weil das viel zu rasch ging, zeigte man im Film die Sequenz in Zeitlupe, aus verschiedenen Blickwinkeln und mit Wiederholungen. Dem Publikum bleibt trotzdem der Atem stocken. Von Sky Movies wurde diese Szene zum besten Stunt aller Zeiten gekürt.
Dass sein Bauwerk dereinst als Filmkulisse weltberühmt werden würde, konnte der Ingenieur Giovanni Lombardi nicht ahnen, als er von der Elektrizitätsgesellschaft Verzasca SA mit der Planung der Staumauer in Tenero-Contra betraut wurde. Der ETH-Ingenieur baute ein Werk, wie es die Welt noch nie gesehen hatte: 220 Meter hoch, 380 Meter breit, an der Krone bloss sieben Meter dick. Weil die elliptisch geformte Bogenstaumauer aus Beton dünner als die bis anhin gebauten Talsperren war, erschien sie auch eleganter und kühner. Mit ihren zwölf beidseitig symmetrisch angeordneten Hochwasserentlastungsrinnen, die in eleganten Sprungschanzen am Mauerfuss enden, setzt sie bis heute Massstäbe bezüglich Eleganz, Funktionalität und harmonische Integration in eine Berglandschaft.
Natürlich gab es auch Kritik an dem Werk. Nicht nur von Umweltschützern, die sich ärgerten, dass ein Teil des Dorfes Vogorno in den Fluten verschwand, sondern vor allem von den Zementproduzenten, weil für den Bau weniger als die Hälfte der damals üblichen Betonmenge benötigt wurde. Zweifler an dem kühnen Vorhaben konnte Lombardi mit Verweis auf die Tests an Modellen beruhigen: Seine Staumauer hielt fast das Sechsfache des vorgesehenen Wasserdrucks aus. So hatte er das berechnet, unter anderem mit Hilfe von Computern, was damals eine Sensation war. Zeit, um das 1965 fertiggestellte Bauwerk zu testen, blieb keine. Kaum waren die Talsperre und die Turbinen betriebsbereit, goss es tagelang wie aus Kübeln. Der Pegel des Lago di Vogorno stieg und stieg, so dass Bauherren, Behörden und Bevölkerung nur hoffen konnten, dass die Hochwasser-Entlastung wie geplant funktionierte. Sie funktionierte einwandfrei, wie sich herausstellte, woran Lombardi keine Sekunde gezweifelt hatte: «Schlaflose Nächte habe ich nie gehabt.»
Von der Talsperre zum Tunnel
Seinen Ruf als genialer Ingenieur zementierte er, als er kurz darauf seine Pläne für den Bau des Gotthard-Strassentunnels präsentierte. Es war eine Sternstunde der helvetischen Ingenieurskunst. Während seine Konkurrenten für eine schnurgerade Linie zwischen Göschenen und Airolo (parallel zum Eisenbahntunnel) plädierten, schlug Lombardi am Gotthard ebenfalls eine Bogen-Lösung vor, indem er den Einschnitten im Gebirge folgte. Durch die Verlegung des Tunnels in Richtung der Furchte des Gotthardpasses standen einem etwas längeren Tunnel bedeutend kürzere Lüftungsschächte gegenüber, die auch noch von der Passstrasse gut erreichbar waren. Zudem konnte eine geologische Störung umgangen werden.
«Es war eigentlich eine banale Idee. Aber man musste drauf kommen», sagte Lombardi, der durch das Know-how, das er sich im Verzasca-Tal und am Gotthard erworben hatte, auch im Ausland zu einem gefragten Mann avancierte. Wo Talsperren und Tunnels geplant und gebaut wurden, legte man Wert auf die Expertise des Ingegnere aus Minusio. Sein Einsatzgebiet reichte von der Karakaya-Talsperre am Euphrat bis zu den Staumauern von Zimapán in Mexiko, vom Umfahrungstunnel in Hergiswil über die CERN-Anlagen in Genf bis zum Gotthard-Basistunnel. In 75 Ländern hinterliess er seine architektonischen Spuren.
Gerne kokettierte er im Alter damit, dass er als junger Ingenieur mit einer gewissen Verwegenheit ans Werk gegangen sei. So auch beim Bau der Contra-Talsperre. Als die Bergflanken freigelegt waren, stellte Lombardi fest, dass der Fels am vorgesehenen Ort wegen geologischen Verwerfungen ungeeignet war, um die Fundamente anzubringen. Kurzerhand beschloss er mit dem Chef der Baufirma, die Staumauer fünfzehn Meter talaufwärts zu verschieben. Die Behörden erfuhren erst nachträglich von dieser fundamentalen Änderung. «Wenn man so etwas heute machen würde, dann landet man – wenn man Glück hat – für ein paar Jahre im Gefängnis. Wenn man Pech hat, wird man lebenslang in einer psychiatrischen Anstalt verwahrt», erzählte der Ehrendoktor der EPFL in Lausanne und der Technischen Universität Mailand im hohen Alter in Interviews, um flugs die nächste Anekdote zum Besten zu geben. Als der Stausee gefüllt war, habe man immer wieder Erschütterungen registriert. Ganze sechs Jahre habe man über deren Ursprung gerätselt, ehe man merkte, dass der Sensor in der Nähe eines Wohnhauses platziert war, dessen Besitzer sein Garagentor mit viel Schwung zuzuknallen pflegte. Wenn’s nicht wahr wäre, würde es nach einem ganz schlechten Film klingen …
Abenteuer «in echt»
Benötigen Sie einen Adrenalin-Kick? Für CHF 255.– können sich Erwachsene an der Staumauer des Lago di Vogorno in die Tiefe stürzen.
Action im Film
Die Auftaktszene des Films Goldeneye von 1995 mit dem legendären Sprung von James Bond finden Sie auf YouTube (www.youtube.com/watch?v=mSvuHSqqGSw).
Andenken an den Ingenieur
Auf der 220 Meter hohen Staumauer erinnert eine Gedenktafel an den «genialen Planer und Erbauer dieser imposanten Talsperre, die zu den höchsten und kühnsten auf der Welt gehört»: Der Ingenieur Giovanni Lombardi starb am 22. Mai 2017 kurz vor seinem 91. Geburtstag. Für die von ihm gegründete Firma mit Sitz in Minusio arbeiten heute über 500 Ingenieure und Techniker.
Verzasca-Staumauer