Prada

«Zwei Heilige halten im Geisterdorf die Stellung» - von Omar Gisler

Geheimtipp gefällig? Hier ist er: Prada. Gemeint ist aber nicht das italienische Luxus-Label. Sondern das gleichnamige Dorf oberhalb von Bellinzona. Genau genommen ist es ein Geisterdorf, eine im Wald verborgene, mystische Ruinenstätte.

Kardinal Karl Borromäus wird leicht geschwitzt haben, als er am 9. Dezember 1583 mit seinen Gefolgsleuten endlich in Prada eintraf. Anderthalb Stunden hatte der steile Aufstieg von Bellinzona gedauert. Von der Burg Sasso Corbaro aus führte ihn der Weg durch den Wald bis Laghetto, vorbei an einer malerischen Schlucht, ehe er die kleine Kirche von Prada erreichte, das Zentrum des Dorfes. Natürlich waren alle der rund 200 Dorfbewohner zusammengeströmt, um dem illustren Gast die Ehre zu erweisen. Dieser wiederum war von der Frömmigkeit der Einwohner sehr angetan. Zumindest ist nicht überliefert, dass er in Prada ähnlich gewütet hat wie im Misox, wo er in seinem Bekehrungseifer elf Protestanten auf dem Scheiterhaufen verbrennen liess.

Der Besuch von Karl Borromäus ist das letzte der wenigen Zeugnisse, die von Prada überliefert sind. Heute ist Prada eine im Wald verborgene Ruine respektive, wie die Tessiner Zeitung schreibt, «ein mystischer Ort, vielleicht der geheimnisvollste Ort im ganzen Südkanton». Alle Gebäude sind zerfallen, von Gestrüpp überwuchert, reich an vergangenem Glanz und morbidem Charme. Seit das Gelände im Frühjahr 2017 auf einer Fläche von 300 Quadratmetern entwaldet wurde, um die Vergandung zu stoppen, sind die Dimensionen, die der Ort einst aufwies, wieder gut ersichtlich. Es handelte sich um ein stattliches, wohlhabendes Dorf. Seine Geschichte dürfte ins Hochmittelalter zurückreichen, als man überall im Tessin in ähnlichen Höhenlagen Siedlungen zu errichten begann. Prada liegt auf 577 Metern, in den Wäldern zwischen den Feldern auf dem Talboden und den höher gelegenen Alpweiden, die im Sommer genutzt wurden. Diese Lage bot Schutz vor Überschwemmungen, Hochwasser und marodierenden Soldaten, welche auf der Via delle Genti den Gotthard, Lukmanier oder San Bernardino überquerten.

Wohlstand und Untergang

Rund vierzig Familien respektive zweihundert Personen lebten im 16. Jahrhundert in Prada. Das ist viel, wenn man bedenkt, dass das strategisch bedeutsame Bellinzona damals rund 1200 Einwohner zählte. Die Gebäude zeugen davon, dass die Einwohner von Prada alles andere als arme Bergbauern waren. Es sind nicht nur einfache Hütten und Ställe, sondern – was sehr selten für solche Siedlungen ist – bis zu drei Stockwerke hohe Gebäude. Die Kanten wurden mit grossen, eckigen Steinquadern verstärkt. Als Bindemittel verwendete man Kalkmörtel. Man weiss das deshalb so genau, weil es sich dabei um diejenigen Teile der Häuser handelt, die am besten erhalten geblieben sind. Die Dächer waren überwiegend als Satteldachkonstruktionen gebaut und mit Plattengneis bedeckt, während die Fussböden aus Holz gefertigt waren. An die fünfzig Häuser sind klug aufgereiht, um, von der Sonne beschienen, den knappen Raum optimal zu nutzen. Rund um das Dorf muss es früher Gemüsegärten und Rebberge gegeben haben, stammt doch der Name Prada vom lateinischen Prata, das heisst Wiesen oder Weideland. Heute dominiert rund um die freigelegten Ruinen der Wald. Die Tessiner Zeitung beschreibt das Szenario «als geheimnisvoll, ein bisschen unheimlich, aber auch friedlich und voll stillem Zauber».

Ursache für Pradas Untergang war vermutlich die Pest. Die Epidemie erreichte die Gegend von Bellinzona anno 1629. Die Quellenlage über dieses Ereignis ist dünn. Überliefert ist, dass die Behörden von Bellinzona am 4. November 1629 beschlossen, ein Bild von Karl Borromäus malen zu lassen und den Kardinal, der schon zu Lebzeiten als Heiliger verehrt wurde, so um Hilfe beim Kampf gegen den Schwarzen Tod zu bitten. Von den Totenregistern jedoch fehlt jede Spur. Prada soll damals ein einziges Lazarett gewesen sein. Ob jemand überlebte, ist nicht bekannt, und es wird wohl für immer ein Rätsel bleiben, warum ungünstiger gelegene Weiler wieder besiedelt wurden, das einst prosperierende Prada jedoch nicht.

Ein wenig Leben kehrt heute im Geisterdorf nur zwei Mal im Jahr ein, an Pfingstmontag und am zweiten Sonntag im August, wenn in der Kirche die Messe gelesen wird. Die winzige Kirche von Prada, die 1313 erstmals erwähnt und 1816 einen kleinen, mit weissem Kalk getünchten Turm erhielt, ist dem Heiligen Hieronymus (San Girolamo) und dem Heiligen Rochus (San Rocco) geweiht. Ersterer gehört zu den grossen Kirchenvätern der Spätantike und lebte lange als Eremit in der Abgeschiedenheit, während der heilige Rochus als Schutzpatron gegen die Pest angerufen wird. Das Konterfei dieser beiden eher grimmig dreinblickenden Heiligen auf einem leuchtend orangen Hintergrund ist schon von Weitem sichtbar. Die Bemalung ist neueren Datums. «12 agosto 2001» ist in eine Erinnerungstafel graviert. Die Kirche ist das einzige Gebäude, das all die Jahrhunderte überdauert hat. Wie es den Leuten über Dutzende von Generationen gelungen ist, das Gotteshaus im Geisterdorf in Schuss zu halten, ist eines der vielen Geheimnisse von Prada.

Wanderung zum Geisterdorf

Vom Bahnhof Bellinzona gelangt man in einer neunzigminütigen Wanderung, vorbei an der sehenswerten Kirche von Ravecchia und durch einen lauschigen Kastanienwald, nach Prada. Ab Sasso Corbaro dauert die Wanderung rund eine Stunde.

Geplante Restaurierung

Die Fondazione Prada hat sich zum Ziel gesetzt, die Siedlung zu restaurieren. In einem ersten Schritt wurden die Ruinen entwaldet und das Mauerwerk der Häuser vor dem weiteren Zerfall gesichert. Für die Wiederherstellung des Dorfes wird mit einer Restaurationszeit von 20 bis 25 Jahren gerechnet. Vorausgesetzt, es finden sich die notwendigen finanziellen Mittel.

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