Fortini della fame

«Festungsbau mit knurrendem Magen» - von Omar Gisler

Einem feindlichen Angriff hätten die Befestigungsanlagen von Camorino wohl nicht lange standgehalten. Trotzdem haben die «Hungerburgen» ihren Zweck erfüllt: Ihr Bau bot der Bevölkerung Arbeit und Nahrung.

Hunger, Not und Elend waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa so gross, dass das Volk auf die Barrikaden ging. 1848 kam es in Paris und Berlin, in Wien und Mailand zu Unruhen, Aufständen und Revolutionen, während Karl Marx und Friedrich Engels mit ihrem «Kommunistischen Manifest» für eine neue Gesellschaftsordnung plädierten. Ein revolutionärer Geist erfasste auch die Schweiz: Nach über 500 Jahren endete 1848 die Geschichte der Tagsatzung, und der parlamentarische Bundesstaat wurde aus der Taufe gehoben. Umgeben war diese Republik im Herzen Europas von Monarchen, welche die Volksaufstände auf ihrem Hoheitsgebiet brutal niederschlugen. Folge: Viele Aufständische flohen in die Schweiz.

Die Südgrenze avancierte so zu einem Hotspot. Nachdem in Mailand eine liberale Bewegung vergeblich versucht hatte, der österreichischen Herrschaft ein Ende zu bereiten, strömten aus Angst vor Vergeltung 20‘000 italienische Flüchtlinge ins Tessin. Marschall Josef Wenzel Radetzky von Radetz, der österreichische Gouverneur in der Lombardei und Venetien, tobte. Er beschuldigte den Kanton Tessin, die liberalen und nationalen Aspirationen der Italiener zu begünstigen und die subversiven Aktivitäten gegen Österreich zu tolerieren. Die Tessiner Regierung wies diese Vorwürfe zurück, und der Grosse Rat beschloss einstimmig, «gegenüber diesem General einen harschen Ton anzuschlagen und das heilige Asylrecht zu verteidigen».

Radetzkys Retourkutsche liess nicht lange auf sich warten. Er verhängte eine Post- und Handelsblockade. Auf Weizenlieferungen aus der Poebene warteten die Tessiner nun vergeblich. Die Beziehungen verschlechterten sich weiter, als die Tessiner Regierung 22 lombardische Kapuzinermönche des Landes verwies, die beschuldigt wurden, Agenten im Sold der Habsburger zu sein. Radetzkys Konter erfolgte am 16. Februar 1853: Von einem Tag auf den anderen mussten über 6500 Tessiner die Lombardei verlassen. All die Spinnerinnen, Maurer, Köche, Kellner, Kaminfeger, Kupferschmiede, Klempner und Marroniverkäufer kehrten als Arbeitslose in ihre Heimat zurück. Dort erwartete sie das nackte Elend. Wegen Missernten, verursacht durch die Kartoffelkrankheit, nagte die Bevölkerung am Hungertuch. Zusätzliche Mäuler, die es zu stopfen galt, waren das Letzte, was man brauchen konnte. Die Behörden von Aquila im Blenio-Tal beispielsweise beschwerten sich bei der Regierung in Bellinzona: Die Armen seien vor die Wahl gestellt, entweder mit ihrer Familie zu verhungern oder aus Verzweiflung irgendeine Schandtat zu begehen.

Bauen gegen den Hunger

Was tun, um die Not zu lindern? Der Bund und der Kanton Tessin lancierten ein Beschäftigungsprogramm. Die Arbeitslosen wurden zum Bau von Schulen, Strassen und Dämmen eingespannt. Zudem begann man, auf dem 2600 Meter breiten Talboden zwischen Sementina und Camorino eine Verteidigungslinie zu errichten, die eine allfällige Invasion Österreichs stoppen sollte. Die Befestigungen südlich von Bellinzona waren bereits seit 1844 geplant und hätten nach dem Willen von General Guillaume-Henri Dufour mit 20‘000 Mann und 36 Geschützen besetzt werden sollen.

Im Herbst 1853 nahm man den Bau der Befestigungslinie in Angriff. Gekrönt wurde diese von fünf zylinderförmigen, rund zehn Meter hohen Türmen. Der Volksmund taufte die Anlagen «Hungerburgen», weil sie eben in Zeiten bitterster Armut erbaut worden waren. Von den Türmen auf den Hügeln bei Camorino aus hätten die Soldaten, geschützt durch meterdicke Mauern, in aller Ruhe auf allfällige Angreifer zielen können, die von der Magadino-Ebene anrückten. Doch diese kamen nie – zum Glück, denn am militärischen Nutzen der Anlagen zweifelten schon damals nicht wenige.

Einer Bewährungsprobe wurden die Fortini della fame nie unterzogen. Denn der Bundesrat beendete den Konflikt mit Österreich auf dem diplomatischen Parkett. Am 21. April 1855 wurde die Handelsblockade wieder aufgehoben. Die Tessiner Regierung bot mit einer Entschädigung in der Höhe von 115‘000 Franken an die Kapuzinermönche Hand zu dieser politischen Lösung. Für den armen Kanton war das zwar eine beachtliche Summe, aber ein Klacks im Vergleich zum Schaden, der ihm durch die Grenzblockade entstanden war: Historiker gehen von rund zehn Millionen Franken aus.

Millionen von Franken verschlangen auch die Korrektionsarbeiten am Flusslauf des Ticino, die eine Urbarmachung der Magadino-Ebene ermöglichten. Durch die Trockenlegung des Sumpfgebietes und die Eindämmung des Flusses konnten über 3000 Hektaren Boden den ständigen Überschwemmungen, der Erosion und der Malaria entzogen werden. Die Magadino-Ebene avancierte so zur Korn- und Getreidekammer des Kantons. Bis heute liefert sie vier Fünftel der kantonalen Obst- und Gemüseproduktion. Treibende Kraft hinter der Urbarmachung war der Mailänder Intellektuelle Carlo Cattaneo, ein Freisinniger, der 1848 nach dem gescheiterten Aufstand gegen die Österreicher Zuflucht im Tessin gefunden hatte.

Die Hungertürme erwandern

Die Fortini della fame sind durch einen rund zweistündigen Lehrpfad erschlossen worden. Der Weg führt durch Wälder und Rebberge zu fünf Wehrtürmen. Man erfährt dabei Wissenswertes über die Geschichte des Tessins und geniesst einen beeindruckenden Blick auf die Magadino-Ebene und die Region Bellinzona. Als Startpunkt bietet sich die Postauto-Haltestelle «Camorino, Villaggio» an.

Einfach grottengut

Der Hunger war früher im Tessin allgegenwärtig. Im Begriff «Cucina povera» kommt das sehr anschaulich zum Ausdruck. Die ursprünglich «arme» ist heute vor allem eine erd- und naturverbundene Küche, die selbst Gourmets begeistert. Der deutsche Starkoch Wolfram Siebeck erfand dafür den Begriff «grottengut». Nachfolgend eine Begriffserklärung von A (wie Antipasto) bis Z (wie Zincarlín), damit Sie sich bei der Lektüre der Speisekarte in einem Grotto zurechtfinden.

Antipasto ticinese: Während Vegetarier ihre Augen verdrehen, geraten Fleischliebhaber ins Schwärmen, wenn zur Vorspeise eine Tessiner Platte serviert wird. Auf dem Piatto Ticinese finden sich alle kalten Köstlichkeiten der Region: Verschiedene Sorten Salami, Rohschinken, Rauchfleisch, Mortadella und Coppa. Dazu noch Gurken, Zwiebeln und frisches Brot. Die Vorspeise (antipasto) soll dazu dienen, gemäss dem Sprichwort «L’appetito vien mangiando»– «der Appetit kommt beim Essen» – eben diesem Vorschub zu leisten.

Cicitt: Die Wurst Cicitt ist eine Herbstspezialität aus dem Maggia- und Verzasca-Tal. Hergestellt wird sie aus dem Fleisch älterer Ziegen, die im nächsten Jahr nicht mehr für die Milchproduktion auf der Alp geeignet sind. Der Name kommt von cit, was im lokalen Dialekt «Fett» bedeutet. Fett ist diese Wurst tatsächlich, und wie! Das merkt man, wenn sie traditionsgemäss auf offenem Feuer gebraten wird. Dann tropft das Fett heraus und entfacht im Kamin einen veritablen Feuersturm, der die Würste auf archaische Art flambiert.

Gazzosa: Mit Erfolg haben die Tessiner die Invasion industriell produzierter Softdrinks abgewehrt. Die Gazzosa, eine Art Limonade, gilt längst als Kultgetränk, auch nördlich des Gotthards. Über ein Dutzend Produzenten stellen die lokalen Mineralwasser mit Limonen- und Mandarinengeschmack her. Einer der ältesten ist die Firma Coldesina in Bellinzona, die seit 1885 Sprudelwasser in die charakteristischen Flaschen mit Bügelverschluss und Porzellanzapfen abfüllt. Damals war die Gazzosa als «Champagner für Arme» bekannt, weil das Getränk prickelnd und aromatisiert ist, mit seinen Bläschen an Champagner erinnert und zu besonderen Anlässen getrunken wurde.

Farina bóna: Die Farina bóna, ein Mehl aus geröstetem Mais, ist eine Spezialität aus dem Onsernone-Tal. Das «gute Mehl», so die deutsche Übersetzung, wird in restaurierten Mühlen in den Dörfern Loco und Vergeletto produziert. Früher wurde es mit Wasser, Milch oder Heidelbeeren vermischt und gegessen. Heute wird die Farina bóna zur Herstellung von zahlreichen Gerichten verwendet, vom Teig für Mürbekuchen über Teigwaren bis hin zum Speiseeis.

Gelato artigianale: Eine süsse Versuchung, der man nach dem Hauptgang nur schwer widerstehen kann: von Hand zubereitetes Tessiner Speiseeis. Egal, ob aus Johannisbeere, Americano-Trauben, Kaffee, Haselnuss, Feigen, Passionsfrucht, Kastanienmehl oder Farina bóna – die Auswahl ist riesig.

Pesce in carpione: Zum kulinarischen Erbe des Tessins gehört auch der Fisch. Am Lago Maggiore hat der Fischfang eine lange Tradition. Ein typisches Gericht ist der Pesce in carpione. Auch bei dieser Delikatesse wurde aus der Not eine Tugend gemacht: um Fisch – entweder Coregone (Felchen) oder Trota (Forelle) – zu konservieren, wird er gebraten, in eine Kräuteressigmarinade eingelegt und kalt serviert.

Polenta: Früher war sie eines der Hauptnahrungsmittel der Tessiner. Heute ist eine über dem Feuer gekochte Polenta zwar nicht mehr ganz so üblich, doch gibt es viele Gaststätten, welche diese Tradition aufrechterhalten. Die Polenta wird oft schon morgens auf kleiner Flamme eingekocht. Sie passt zu vielen Gerichten, wird aber vorzugsweise zu Schmorbraten (Brasato) und Kaninchen (Coniglio) gereicht.

Ratafià: Aus grünen Nüssen wird der Nusslikör Ratafià hergestellt. Seinen geheimnisumwitterten Ruf verdankt er den Mönchen des Kapuzinerklosters Bigorio oberhalb von Tesserete bei Lugano, den Hütern des Rezeptes. Der Legende nach sammeln sie die Nüsse in der Nacht auf den 24. Juni, in der Johannisnacht, ein. Nach einer mehrwöchigen Produktionsphase ist das Getränk auf die Erntezeit hin parat. Mit einem Glas Ratafià wurden früher Abkommen und Verträge besiegelt. Daher der Name, der auf das Lateinische rata und fiat zurückgeht – ratifizieren.

Reis: Auf dem sandig-lehmigen Schwemmland der Maggia in Ascona befindet sich eines der nördlichsten Reisfelder der Welt. Seit 1997 wächst dort Reis von der Sorte Loto, der sich hervorragend für die Zubereitung von Risotto eignet. Jährlich werden rund 400 Tonnen Rohreis eingefahren. Davon bleiben etwa 60 Prozent als Weissreis übrig und gelangen unter dem Label Riso Nostrano Ticinese in 1-Kilo-Packungen in den Verkauf.

Risotto: Reis aus der Poebene war lange Zeit ein Luxus. Um im Himmel ein paar Pluspunkte zu sammeln, so die Legende, spendierten die reichen Tessiner den Armen jeweils an Fasnacht einen Teller Risotto. Heute wird Risotto in ungezählten Varianten serviert: ai funghi (mit Pilzen), alla milanese (mit Safran), als Risotto ai frutti di mare (mit Meeresfrüchten), mit luganighe (Schweinswurst), Heidelbeeren, Trüffeln, Brennnesseln – der Fantasie der Köche sind keine Grenzen gesetzt.

Torta di pane: Was macht man aus Brotresten? Eine Torte! Von der Torta di pane gibt es im Tessin mittlerweile etwa so viele Variationen wie Gipfel in den Bergen. Die Bandbreite reicht dabei von der ursprünglichen Resteverwertung mit der Zugabe von ein wenig Kakao bis zur teuren Dessert-Spezialität, in die zartschmelzende Schokolade, Amaretti, Vanille, Zimt und Muskat einflossen.

Zincarlín: Beinahe wäre der Zincarlín aus dem kulinarischen Erbe des Tessins für immer verschwunden. Nur eine einzige Frau im Muggio-Tal wusste noch, wie man den pyramidenförmigen Käse mit dem intensiven Geschmack herstellt. Im Rahmen eines Slow-Food-Projektes erlebte der Zincarlín in den 1990er Jahren eine Renaissance. Er wird von Hand aus Kuh- und Ziegenmilch hergestellt und mit schwarzem Pfeffer, Petersilie und Knoblauch gewürzt. In den Handel gelangt er erst nach einer Reifung von zwei Monaten in natürlichen Felsenkellern.

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