Faido in der Belle Epoque

«Die gnädigen Herren kannten keine Gnade» - Von Omar Gisler

Als in der Leventina 1755 eine Revolte ausbricht, reagieren die Urner brutal: In Faido werden drei Rädelsführer enthauptet. Trotzdem wollte sich das ehemalige Untertanengebiet später dem Kanton Uri anschliessen – die Grossmächte legten jedoch ihr Veto ein.

Faido, 2. Juni 1755. Alle Männer der Talschaft Leventina, insgesamt 3000, sind auf dem Dorfplatz versammelt. Freiwillig ist keiner von ihnen da. Von eidgenössischen Truppen umringt, wird ihnen das Strafurteil der Urner Obrigkeit verkündet: Ihre uralten Rechte und Privilegien werden gestrichen, und die gesamte Talschaft wird zu Ehr- und Wehrlosigkeit degradiert. Danach müssen die Leventiner den Eid unbedingten und ewigen Gehorsams an Uri schwören. Als Höhepunkt der Machtdemonstration inszenieren die Urner die Hinrichtung von Bannerherr Giovanni Antonio Forni, Landeshauptmann Giovanni Lorenzo Orsi und Ratsherr Giuseppe Sartore, die allesamt vom Scharfrichter enthauptet werden. Zur Abschreckung stellt man ihre Häupter auf dem Blutgerüst zur Schau.

Diese Demütigung war der Tiefpunkt einer Beziehung, die auf Augenhöhe begonnen hatte. 1403 erstmals von den Eidgenossen in Besitz genommen, blieb die Leventina nach wechselnden Geschicken seit 1441 fest mit Uri verbunden. Das Tal wurde einem Landvogt unterstellt, behielt aber eine gewisse Selbständigkeit in der Verwaltung und im Wehrwesen. Wenn das Urner Harsthorn zum Kriege blies, zogen die Leventiner Seite an Seite mit den Urnern in die Schlacht. 1478 besiegte man bei Giornico gemeinsam ein zahlenmässig überlegenes Mailänder Heer, und 1515 in Marignano stammten 93 der Schlachtopfer aus der Leventina. «Urnern und Leventinern war bergbäuerlich freiheitliches Denken und Fühlen und das Interesse am Unterhalt der gleichen Handelsstrasse gemeinsam, es verband sie über Unterschiede der Sprache und Rasse hinweg», schreibt Wilhelm Keller im Standardwerk «Uri Land am Gotthard».

Eine Art Urner Kolonie

Frei von Spannungen war die transalpine Beziehung dennoch nicht. Denn im Laufe der Zeit traten die Urner immer dominanter und autoritärer in Erscheinung. Im 18. Jahrhundert hatte sich die Landsgemeinde-Demokratie der Innerschweiz im Stile des europäischen Absolutismus in einen elitären Obrigkeitsstaat verwandelt. Die Selbstbestimmungsrechte der Leventiner wurden immer stärker beschnitten. Zudem nutzten die Urner Landvögte ihre Stellung schamlos aus und bereicherten sich auch persönlich. Ab dem 17. Jahrhundert war die Leventina einer Art Kolonie der Urner.

Der Grund, der 1755 zur Eskalation führte, war nichtig. Bei der Verwaltung der Waisengelder durch Mitglieder der Leventiner Oberschicht soll es zu Mauscheleien gekommen sein. Uri ordnete eine Untersuchung an. Die zur Rechenschaft gezogenen Vormünder verstanden es, dieses durchaus berechtigte Vorgehen als Eingriff in alte Landesrechte darzustellen und die Bevölkerung aufzuwiegeln. Als ihr Landvogt in Faido festgehalten wurde, mussten die Urner reagieren, wollten sie die Kontrolle nicht verlieren. Sie zogen mit 2500 Mann und Geschützen über den noch schneebedeckten Gotthard. Ohne auf wirklichen Widerstand zu stossen, besetzte das Expeditionskorps die Talschaft und zog am 22. Mai 1755 in Faido ein. Die «gnädigen Herren und Obern» liessen keine Gnade walten. Stattdessen statuierten sie ein Exempel, indem sie drei Rädelsführer – wie eingangs geschildert – vor aller Augen hinrichteten.

Uri oder Tessin?

Der Aufstand in der Leventina war kein Einzelfall. Im Laufe des 18. Jahrhunderts kam es an den verschiedensten Orten der Eidgenossenschaft zu Untertanenrevolten, die aber lokal begrenzt blieben. Meist forderten die Aufständischen alte Rechte zurück, die ihnen im Laufe der Zeit weggenommen worden waren. Die Obrigkeit stand jeweils vor der grundsätzlichen Frage, ob sie dem Druck nachgeben oder die Schrauben fester anziehen sollte. In den meisten Fällen wählte sie den zweiten Weg, so dass den Aufständischen das gleiche Schicksal blühte wie den Leventinern anno 1755.

Es waren dann die Franzosen, die das Ancien Régime in der Schweiz stürzten. Uris Herrschaft in der Leventina endete 1798. Doch nach der Abdankung Napoleons gab es Bestrebungen, das Rad der Zeit zurückzudrehen. So meldete beispielsweise Bern Ansprüche auf seine ehemaligen Untertanengebiete in der Waadt und im Aargau an, und auch Uri begann, die Leventina zu umgarnen. Das brachte wiederum die Behörden des von Napoleon geschaffenen Kantons Tessin auf die Palme. Es standen sich die über 300-jährige Verbundenheit der Leventina mit Uri und die 16-jährige Zugehörigkeit zum Kanton Tessin gegenüber. Was nun?

Entscheid in Wien

«Durch Jahrhunderte wart Ihr mit Uri verbunden, Ihr gehört zu Uri», liess Altdorf verlauten. Am 9. April 1814 präsentierten die Urner den Entwurf für eine neue Verfassung. Der Kanton Uri sollte nun aus drei Distrikten bestehen, nämlich Altdorf, Urseren und Liffinen. Die Leventina, die damals zwanzig Gemeinden umfasste, sollte eigene Gesetze, eigene Beamte und eigene Richter haben und eine Anzahl Landräte nach Altdorf delegieren. Ferner sollte der Distrikt eine eigene Bezirksregierung erhalten, die Allmenden selbst verwalten und auch die Polizeigewalt innehaben. Verlockende Aussichten!

Tatsächlich votierten Faido, Mairengo, Calpiogna, Calonico, Chioggiogna, Quinto und Airolo für die Wiedervereinigung mit Uri. An der eidgenössischen Tagsatzung wurde hitzig, aber ergebnislos über dieses Anliegen diskutiert. Schliesslich bestellte man ein Schiedsgericht. Doch der definitive Entscheid wurde weder in Zürich noch in Luzern oder Bern gefällt, sondern in Wien. Am 10. Dezember 1814 beschloss der Wiener Kongress, dass die Leventina beim Kanton Tessin bleibt.

Denkmal

Auf dem Rathausplatz von Faido, der Piazza Franscini, erinnert seit Mai 2019 eine Holzskulptur an die zum Tode verurteilten Aufständischen von 1755. Gleich daneben, in Stein gehauen, steht das Denkmal des in Bodio geborenen Stefano Franscini (1796 – 1857), dem ersten Tessiner, der in den Bundesrat gewählt wurde.

Geschichte im Museum

Wer in die Geschichte der Leventina eintauchen möchte, dem sei der Besuch des Talmuseums in Giornico ans Herz gelegt.

Benvenuti a Pfaid

Es gibt Begriffe, bei denen Deutschschweizer heute bloss noch Bahnhof verstehen. Dazu gehören die Ortsnamen, welche die alten Eidgenossen den Tessiner Orten gaben. Machen Sie die Probe aufs Exempel:

Liffinen / Livinen - Leventina

Eriels - Airolo

Platifer - Monte Piottino

Pratt - Prato

Feit / Pfaid - Faido

Yrnis - Giornico

Klösterli - Pollegio

Ablentschen - Bia

Usonien - Osogna

Bellenz - Bellinzona

Megadin - Magadino

Luggarus - Locarno

Mont Kennel - Monte Ceneri

Lauis / Lauwis - Lugano

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