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Bundesbrief

«Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden» - von Omar Gisler

Wahr oder falsch? Im Bundesbriefmuseum in Schwyz werden die Mythen der Schweizer Geschichte beleuchtet. Die Ausstellung zeigt, dass Fake-News schon früh zum politischen Repertoire gehörten – selbst der Bundesrat schreckte nicht davor zurück.

Wie gut kennen Sie sich in der Schweizer Geschichte aus? Um das herauszufinden, erlauben wir uns drei Testfragen:

Welches Ereignis fand am 1. August 1291 auf dem Rütli statt?

A) Die drei Waldstätten organisierten den Widerstand gegen Habsburg

B) Keines

Was ist der Bundesbrief von 1291?

A) Die Stiftungsurkunde der Schweiz

B) Ein Zweckbündnis zwischen drei Orten

Seit wann ist der 1. August der Schweizer Nationalfeiertag?

A) Seit 1291

B) Seit 1891

Wenn Sie alle drei Fragen mit A beantwortet haben, sollten Sie Ihr Geschichtsbild einem Faktencheck unterziehen. Das Bundesbriefmuseum an der Bahnhofstrasse 20 in Schwyz ist der ideale Ort dafür. Denn dort wird nicht nur die berühmte Urkunde von 1291 ausgestellt, sondern es wird auch erklärt, welche Rolle Mythen, Legenden und Erzählungen beim Entstehen der modernen Schweiz spielten. Das Museum selbst ist ebenfalls Teil der Ausstellung. Erbaut wurde es 1936, als die Schweiz begann, sich auf die geistige Landesverteidigung einzuschwören. Vor und während des Zweiten Weltkrieges avancierte das Bundesbriefarchiv, wie es damals genannt wurde, zu einer nationalen Wallfahrtsstätte, wo das Pergament von 1291 als Gründungsurkunde der Schweiz verehrt wurde.

Ein Monument der Widerstandsideologie

Um zum «Schrein der Nation» respektive zum «Altar des Vaterlandes» zu gelangen, müssen Besucher sechs Treppen hochsteigen, bis sie in die sakral anmutende Halle mit dem «Allerheiligsten» gelangen. Auf dem Weg dorthin haben Ankommende stets das Monumentalgemälde mit den schwörenden Eidgenossen des Urner Künstlers Heinrich Danioth vor Augen – und staunen, unter den Arkaden angekommen, vielleicht über die zwei Kanonen, die von hier auf das Regierungsgebäude gerichtet sind. Doch dahinter steckt keine böse Absicht; vielmehr ist es dem Zufall geschuldet, ist doch der Kanton Schwyz Träger des Museums. Er hat darin die wichtigsten schriftlichen Wegmarken der eidgenössischen Geschichte des Spätmittelalters der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Nebst der Urkunde von 1291 sind dies unter anderem der Bund von Brunnen, den die Waldstätten nach der Schlacht von Morgarten 1315 schlossen, oder das Stanser Verkommnis, mit dem die acht alten Orte 1481 inneren Auseinandersetzungen Einhalt boten. Geschmückt ist die Ausstellungshalle mit 21 Fahnen, darunter dem Banner, mit dem die Schwyzer in die Schlacht von Morgarten zogen.

Wie und wo sollen diese historischen Zeugnisse aufbewahrt werden, fragten sich die Schwyzer gegen Ende des 19. Jahrhunderts? Es gab Stimmen, die ein eigentliches Nationaldenkmal forderten. Lange verhallten sie jedoch ungehört; Jahrzehnte zogen ins Land, ehe der Bundesrat in den 1930er-Jahren ein Gesuch der Schwyzer Kantonsregierung guthiess, die ein neues Staatsarchiv plante. In Architektur und Einrichtung spiegelt das Bundesbriefmuseum die damalige Widerstandsideologie, und die Dokumente, in erster Linie der Bundesbrief von 1291, dienten als politischer Kompass. Nicht von ungefähr berief General Guisan seine Kaderleute im Juli 1940 zum Rapport aufs Rütli, um dort den Geist des Widerstandes zu beschwören.

Diese Bedrohungslage liess die Schweizer enger zusammenrücken. Die Wunden, die der Sonderbundskrieg Mitte des 19. Jahrhunderts verursacht hatte, waren längst zu Narben verheilt, die man kaum mehr wahrnahm. Vergessen waren die Konflikte und Spannungen, die mit der Gründung des Bundesstaats 1848 verbunden gewesen waren.

Innerschweizer Inszenierungen

In den Jahren unmittelbar nach dem Sonderbundkrieg war dies noch anders gewesen. Insbesondere die Innerschweizer, die Verlierer des Sonderbundkrieges, grollten damals noch lange Zeit. Als Zürich 1851 seine 500-jährige Zugehörigkeit zu den Waldstätten feiern wollte, schlugen diese die Einladung aus. Vier Jahre nach der Niederlage im Sonderbundkrieg hatten sie keine Lust, mit den Siegern zu feiern. Stattdessen begannen sie, ihre eigene Vergangenheit zu glorifizieren und die mythischen Erzählungen in der realen Landschaft zu inszenieren.

Zeit für eine weitere Quizfrage:

Welche Persönlichkeit wurde zuerst mit einem Denkmal geehrt?

A) Friedrich Schiller

B) Wilhelm Tell

Die erste Antwort ist richtig. 1859 widmeten die Urkantone dem deutschen Dichter Friedrich Schiller, dem Autor des Dramas «Wilhelm Tell», zu dessen hundertstem Geburtstag einen zwanzig Meter hohen Felsen in der Nähe des Rütli. „Dem Sänger Tells“, schrieben sie in goldenen Lettern auf den Obelisken am Seeufer, der seitdem als „Schillerstein“ bekannt ist. Der Bundesrat wollte dem nicht hintanstehen und erklärte die Rütliwiese 1860 zum «unveräusserlichen Nationalheiligtum», ein Akt, mit dem sich Bundesbern in der Innerschweiz ein wenig Goodwill schuf. Auf der anderen Seeseite, bei Sisikon, wurde 1879 eine neue Tellskapelle gebaut. Der Urner Landrat erhob den einstigen Bittgang dorthin im Jahre 1884 offiziell zur Landeswallfahrt und ebnete damit das Terrain für die politische Versöhnung der beiden Lager – zumindest ein bisschen.

Strittiges Geburtstagsdatum

Doch schon zog am Horizont neues Ungemach auf, das die helvetische Harmonie vor eine Bewährungsprobe stellte. An der Frage, wann die Schweiz ihren Geburtstag feiern sollte, schieden sich die Geister. Für die Innerschweizer war klar, wann die Eidgenossenschaft gegründet worden war: Am 8. November 1307. Dieses Datum nannte der Gelehrte Aegidius Tschudi in seinem im Jahr 1550 verfassten Werk «Chronicon Helveticum». Gemäss dem Glarner Chronisten fand der Rütlischwur am „Mittwoch vor Martini [das ist der 8. November] anno domini 1307“ statt: «Also ward dieses püntnus von den genanten drijen tapferen personen in dem Land Uri im Rütlin von erst gemacht und geswort, davon die eidtgenosschafft entsprungen.»

Vor allem den Urnern waren diese Zeilen heilig. So steht auf dem Telldenkmal in Altdorf, das 1895 eingeweiht wurde, bis heute die Zahl 1307. Niemandem kam es in den Sinn, dort die Zahlenkombination 1-2-9-1 anzubringen. Aus Urner Sicht verständlich. Denn während die Geschichte vom Rütlischwur im Jahr 1307 auf Urner Boden spielt, soll der Bundesbrief auf Schwyzer Gebiet ausgestellt worden sein. Nachdem er im Jahr 1291 verfasst worden war, geriet er für fast 500 Jahre in Vergessenheit. Im Gegensatz zu den Dutzenden von Landfriedensbündnissen, die im 13. und 14. Jahrhundert verfasst wurden, wird in keiner anderen Urkunde und in keiner Chronik auf den Brief von 1291 verwiesen. Es war der Landschreiber Franz Anton Frischherz, der 1724 Ordnung in das Archiv in Schwyz brachte und dabei auf die Urkunde stiess. Er nummerierte sie auf der Rückseite und trug sie ins Archivregister ein. Das ist die erste offizielle Erwähnung des Bundesbriefs.

Rückdatierung auf 1291

1291 oder 1307 – das war die Frage, über die sich Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur Historiker stritten, sondern die ganze Nation. Eine entscheidende Wende trat ein, als eine von den Zähringern gegründete Stadt mit ihren Plänen für ein Jubiläum vorpreschte.

Um welche Stadt handelt es sich?

A) Bern

B) Freiburg

Ins Rollen brachten die Diskussion die Berner, die am 1. August 1891 das 700-jährige Bestehen ihrer Stadt feierten und dazu gleich noch 600 Jahre Eidgenossenschaft ins Programm aufnahmen. Als diese Pläne ruchbar wurden, geriet der Bundesrat unter Zugzwang. In seiner Botschaft vom 14. Dezember 1889 an die Bundesversammlung hielt er fest: «Die Schweizerische Eidgenossenschaft hat ihren Anfang genommen mit dem ewigen Bunde, welcher von den Leuten von Uri, Schwyz und Unterwalden am 1. August 1291 errichtet worden ist.»

Dass es sich beim Bundesbrief um einen einfachen Landfriedensvertrag zwischen drei Partnern und keineswegs um einen ewigen Bund handelte, ignorierte die Landesregierung. Den 1. August legte sie als Nationalfeiertag fest, weil im lateinischen Originaltext von «incipiente mense Augusto» – also Anfang August – die Rede ist. Dem Schweizer Volk war diese willkürliche Interpretation egal. Getreu dem Sprichwort «Feste soll man feiern, wie sie fallen» wurde die 600-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft 1891 zu einem grossen Erfolg, der das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl nachhaltig stärkte. Am 1. August 1891 läuteten alle Glocken im Land zur selben Zeit und überall wurden abends Feuer angezündet. Die Lehrbücher schrieb man so um, dass der Rütlischwur um 16 Jahre von 1307 auf 1291 zurückdatiert wurde. Der Einwand, dass im Bundesbrief weder Orts- noch Personennamen festgehalten sind, wischte man als irrelevant vom Tisch. Man stellte es als Tatsache hin, dass drei in mittelalterlichen Quellen erwähnte Vertreter der lokalen Oberschicht der Waldstätten – Walter Fürst, Arnold von Melchtal und Werner Stauffacher – den Vertrag von 1291 schlossen. Obwohl man diese drei Herren in Stein gemeisselt in die Kuppelhalle des Bundeshauses stellte und als Gründungsväter der Schweiz inszenierte, ist mehr als fraglich, ob am 1. August 1291 auf der Rütliwiese ein Bund geschlossen wurde. Wahrscheinlich geschah an jenem Tag auf dem Rütli – gar nichts.

Trotzdem trugen der Mythos vom Rütlischwur, die Tellsgeschichte und der Bundesbrief zur Entwicklung eines Gemeinschaftsgefühls in der Schweiz bei. Die nationale Identität und damit auch die Stabilität des Bundesstaates wurden gestärkt. Und ja, das im Bundesbriefmuseum hinter Glas ruhende Dokument ist echt! Eine C14-Untersuchung ergab, dass das Tier, das seine Haut für den Bundesbrief hergab, mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% zwischen 1264 und 1282 starb. Der Rest ist Geschichte.

Den Bundesbrief bestaunen

Im Bundesbriefmuseum in Schwyz tauchen Sie ein in die spannende Welt der Schweizer Geschichte.

Aufs Rütli pilgern

Da das Rütli am 1. August oft mit einem grossen Polizeiaufgebot abgeschirmt wird, empfiehlt sich als Alternative ein Besuch im November. Immer an Mittwoch vor Martini treffen sich die Schützen zum Historischen Rütlischiessen. Eine patriotische Ansprache darf bei dieser Gelegenheit selbstverständlich nicht fehlen.

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