Biasca

Eine Hochburg der Atheisten

Santi Pietro e Paolo

Am Anfang war das Wort, und dieses wurde im 4. Jahrhundert von Gefolgsleuten des Mailänder Bischofs Ambrosius in die drei Täler Leventina, Riviera und Blenio gebracht. Dort, wo sich die Strasse zum Gotthard und Lukmanier gabelt, liessen die Mailänder Kirchenfürsten ein Gotteshaus errichten. Und was für eines! Die dreischiffige Pfeilerbasilika Santi Pietro e Paolo in Biasca gilt als eines der wichtigsten romanischen Baudenkmäler der Schweiz.

Der Bau der Mutterkirche der ambrosianischen Täler geht auf das 12. Jahrhundert zurück, doch ihr Ursprung dürfte noch viel, viel älter sein. Erbaut mit Bruchstein der Region, wächst sie in den Felsen – besonders gut sichtbar ist das im Chor, wo der nackte Granit hervortritt. Wie sehr der unbekannte Baumeister der Landschaft Tribut gezollt hat, zeigt sich auch darin, dass er sich um die vorschriftsgemässe West-Ost-Ausrichtung foutierte, um das Antlitz der Kirche den beiden Talschaften Leventina und Blenio zuwenden zu können. So thront das Gotteshaus in stolzer Abgeschiedenheit mitten unter alten Edelkastanien am Berghang.

Ein Blick in die Kirche lohnt sich auch für Leute, die mit Religion nichts am Hut haben. Die Betrachtung der Wandmalereien aus dem 13. bis 17. Jahrhundert gleicht einer Reise durch fünf Jahrhunderte lombardischer Malkunst. Besonders gut erhalten ist etwa der Sennenheilige Luzius, der mit seinem grossen Käselaib in der linken Hand von einem der Seregnesi gemalt wurde (der Legende zufolge wurde Luzius von seinem Herrn umgebracht, da er aus ein und derselben Menge Milch zweimal Käse machen konnte, welchen er dann an die Armen verteilte). Ein weiterer Blickfang sind die roten und schwarzen Figuren, die ein unbekannter Maler zwischen den dekorativen Flächen in den Gewölbekappen verteilt hat: ein Pferd als Sieger über den satanischen Wolf, ein Schmied als Meister des Feuers mit dem wachsamen Hahn, Schlange und Löwe als Symbole des Bösen sowie dessen Überwindung oder der Pfau als Zeichen der Unsterblichkeit. Auf einen Menschen des Mittelalters muss dieser bunte Bilderreigen gewirkt haben wie ein Videoclip.

Erleben

Die Kirche Santi Pietro e Paolo ist frei zugänglich. Der Spaziergang auf der Via Crucis zu den Wasserfällen mit den schönen Badeplätzen dauert rund zwanzig Minuten. Das Ristorante al Ponte (Via al Ponte 2) existiert nach wie vor. Über das rebellische Biasca hat der Tessiner Filmproduzent Victor Tognola eine Trilogie produziert: „La vigna di San Carlo“, „Biasca La Strega” und “Biasca la Rossa” sind auf der Webseite www.lanostrastoria.ch aufrufbar.

Buzza di Biasca

Die “Buzza di Biasca” forderte Hunderte von Todesopfern und verwüstete das ganze obere Tessin. War bei dieser Naturkatastrophe Hexerei im Spiel? Nein, befanden die eidgenössischen Richter.

Am 30. September 1513 fiel den Einwohnern von Biasca der Himmel auf den Kopf – zumindest musste es sich so anfühlen. Von der Westflanke des 2329 Meter hohen Pizzo Magno löste sich eine gigantische Felsmasse. Tonnen von Stein und Geröll donnerten ins Tal hinunter und begruben zahlreiche Häuser unter sich. Gestoppt wurde die Gerölllawine erst von der Felswand an der gegenüberliegenden Talseite. Ein über sechzig Meter hoher Damm aus Felsbrocken und Geröll versperrte fortan den Eingang zum Blenio-Tal bei “Ablentschen”, wie Biasca damals von den Eidgenossen genannt wurde. Damit nahm das Unheil seinen Lauf. Durch die Geröllhalde wurde der Fluss Brenno gestaut. Die Dörfer Malvaglia, Semione und Loderio versanken in den Fluten des Stausees. War der Felssturz bis dato eine Tragödie für das Blenio-Tal, so avancierte er am 20. Mai 1515 zu einer der grössten Katastrophen in der Schweizer Geschichte. An jenem Tag gab der Damm dem Druck der Wassermassen völlig unerwartet nach. Mehrere Flutwellen wälzten sich über Biasca und die Riviera nach Bellinzona und von dort in den Lago Maggiore. Sie brachten Tod und Zerstörung. Je nach Quelle kamen bei diesem Tsunami zwischen 200 und 600 Menschen ums Leben.

Unter den Folgen der “Buzza di Biasca”, wie die Katastrophe genannt wurde (der Ausdruck “Buzza” bezeichnet im lombardischen Dialekt das bei Hochwasser angeschwemmte Material), hatten noch zahlreiche Generationen zu leiden. Am schwerwiegendsten wirkte sich die Zerstörung der Torretta-Brücke über den Ticino aus. Dadurch geriet die Stadt Locarno ins wirtschaftliche Abseits. Denn der Handel über den Lago Maggiore wurde fortan notgedrungen über Magadino auf der linken Talflanke abgewickelt. Für Locarno, so der Tessiner Historiker Eligio Pometta, “hatte die Katastrophe wirtschaftliche Folgen, die Jahrhunderte dauerten”. Denn erst 1813, als das Tessin keine ennetbirgische Vogtei, sondern ein unabhängiger Kanton war, entschloss sich der Grosse Rat zum Wiederaufbau der Brücke bei Bellinzona.

Erleben

Ein Teil des Geländes der Buzza di Biasca wurde mit dem Aushubmaterial des Gotthard-Basistunnels renaturalisiert. Schon früher wurden unter den riesigen Felsblöcken Keller geschaffen. Heute ist der Name „Via dei Grotti“ in Biasca Programm. Sie beherbergt einige der schönsten Grotti im Tessin: Das Grotto Petronilla, das Grotto Pini, das Grotto del Lino, das Grotto del Mulo oder das Ristorante Grotto Greina. Gäste haben die Qual der Wahl, wo sie einkehren wollen.

Anfahrt: mit dem Treno Gottardo nach Biasca

Gefällt Ihnen diese Geschichte?

EXTERNAL_SPLITTING_BEGIN EXTERNAL_SPLITTING_END