Bergsturz von Goldau
«Hundert wilde Todeshügel» von Omar Gisler
Der Bahnhof von Arth-Goldau ist auf Leichen gebaut. Die Spuren des Bergsturzes von 1806, der 457 Todesopfer forderte, sind bis heute gut sichtbar. Damals schlug die Geburtsstunde der schweizerischen Solidarität.
«Unser Vaterland hat heute ein schreckliches Unglück erlitten.» Mit diesen Worten leitete die Neue Zürcher Zeitung ihre Berichterstattung über die dramatischen Ereignisse ein, die sich am 2. September 1806 in Goldau zutrugen. Augenzeugen berichteten später: «Getöse, Krachen und Geprassel erfüllt wie tief brüllender Donner die Luft: Ganze Strecken losgerissenen Erdreichs – Felsenstücke, gross und noch grösser wie Häuser – ganze Reihen Tannenbäume werden aufrecht stehend und schwebend mit mehr als Pfeilesschnelle durch die verdickte Luft hingeschleudert. Umgeschaffen ist die zuvor paradiesische Gegend in hundert und hundert wilde Todeshügel.»
Das Unheil kam nicht aus heiterem Himmel. Vielmehr hatte es sich vor langer Zeit angebahnt und im Voraus angekündigt: Bei der letzten grossen Alpenauffaltung vor elf Millionen Jahren wurden am Rossberg Nagelfluh-, Mergel- und Sandsteinschichten mit einer Sturzneigung von bis zu dreissig Grad aufgeworfen. Im Laufe von Jahrtausenden drang Wasser in Spalten und Klüfte. In den Wochen vor dem Unglück, als es oft tagelang wie aus Kübeln goss, wurden am Rossberg grosse Spalten und Risse entdeckt. Hirten und Holzfäller vermochten sie nur mit Stegen zu überqueren. Grosse Sorgen machten sie sich deswegen jedoch nicht.
Ein verheerender Abend
Am 2. September 1806 gegen 17 Uhr nahm das Schicksal seinen Lauf: Am Gnipen, dem westlichen Gipfel des Rossbergs, brach das Gestein ab. Die Mergelschicht unter der harten Nagelfluh war derart aufgeweicht, dass sie sich zur fatalen Rutschbahn wandelte. Vierzig Millionen Kubikmeter Fels donnerten ins Tal. Innert weniger Minuten wurden die Siedlungen Goldau, Röthen und Teile von Buosingen unter einer bis zu fünfzig Meter hohen Schuttschicht begraben. Die Steinlawine schoss über den Talboden und brandete noch 120 Meter zur Rigi empor. Ein Ausläufer erreichte gar den 2,5 Kilometer entfernten Lauerzersee und löste dort eine Flutwelle aus. Dieser Tsunami forderte in den Dörfern Lauerz und Seewen mehrere Todesopfer. Die Bilanz des Bergsturzes von Goldau, wie das geologische Ereignis in die Geschichtsbücher einging, ist verheerend:
457 Todesopfer, 323 tote Kühe und Rinder, 111 verschüttete Wohnhäuser, 220 zerstörte Scheunen und Ställe sowie 4 verschüttete Kirchen und Kapellen.
Die Nachricht vom Bergsturz verbreitete sich wie das sprichwörtliche Lauffeuer in der ganzen Eidgenossenschaft. Bereits am folgenden Morgen machten sich Hilfskräfte aus den Nachbarkantonen Zug und Luzern auf den Weg. Wenig später traf auch Unterstützung aus Zürich und Bern ein. Diese spontanen Hilfsaktionen gelten als Geburtsstunde der schweizerischen Solidarität. Durch Sammelaktionen kamen 165‘000 Franken zusammen, eine Summe, die heute einem Wert von 38 Millionen Franken entspricht.
Wiederaufbau und Erinnerung
Allmählich kehrte in der Trümmerlandschaft neues Leben ein. Als Erstes stellten die Goldauer, die das Unglück überlebt hatten, die viel benutzte Transitstrasse wieder her, ehe sie das Pfrundhaus bauten, ein Mehrzweckgebäude. Anschliessend folgte das Gasthaus Rössli, das heute noch unter gleichem Namen existiert. Die eigentliche Wiederauferstehung hat Goldau aber der Gotthardbahn zu verdanken. Pläne, das Felssturzgebiet zu untertunneln, liess man rasch fallen. Stattdessen schuf man den Verkehrsknoten Arth-Goldau, zu dem auch die Bergbahn auf die Rigi gehört. Zuerst waren es Bauarbeiter, die Goldau neues Leben einhauchten. Anschliessend stützten Touristen den Aufschwung. Zum Symbol des Wiederaufbaus avancierte nebst dem Bahnhof die Herz-Jesu-Kirche. Deren Grundstein wurde am 2. September 1906 gelegt, also exakt hundert Jahre nach dem Bergsturz. Erbaut wurde sie weitgehend in Fronarbeit und ganz aus Nagelfluhgestein. Die Goldauer Kirche ist somit nicht nur ein Gotteshaus, sondern ein eigentliches Bergsturzdenkmal.
Aufrecht erhalten wird die Erinnerung an die tragischen Ereignisse auch im Bergsturzmuseum, das 1966 neben dem Eingang des Tierparks eröffnet wurde. Dort sind eindrückliche Relikte zu sehen, etwa der Zopf eines kleinen Mädchens, der mit einer Lehmschicht überzogen ist, oder ein Gekreuzigter aus Bronze, dessen Arme durch den Druck des Gesteins nach unten gebogen wurden. Mitunter kommt es auch zu makabren Funden. Im April 2012 beispielsweise stiessen Bauarbeiter beim Aushub für eine Überbauung auf drei Skelette. Die Knochen wiesen mehrfache Brüche und tiefe Schürfungen auf, wie sie typisch sind für Verschüttete. Untersuchungen ergaben, dass es sich um die Überreste von Karl Bürgi, seiner Frau Marianna Schön und deren gemeinsamer Tochter Agatha handelte. Die Familie war damals vom Bergsturz in ihrem Haus überrascht worden.
Neue Gefahr?
Gibt es wieder einen Bergsturz, lautet die Frage, die man sich in Goldau allenthalben stellt? Ja, muss die Antwort lauten. Die geologische Konstellation des 1580 Meter hohen Rossbergs wird zwangsläufig wieder zu Bergstürzen führen. Seit 1990 wird seine Flanke mit Sensoren überwacht. Kleinste Verschiebungen werden sofort registriert, sodass die Einwohner rechtzeitig evakuiert werden können, was 1806 nicht der Fall war. Damals wussten die Leute auch nicht, dass ihr Dorf auf einem Bergsturz aus vorgeschichtlicher Zeit stand, der mit einem Volumen von gut hundert Millionen Kubikmetern die Wasserscheide zwischen Zugersee und Lauerzersee aufgeschüttet hatte. Und auch die Herkunft des Namens «Goldau» war den wenigsten bekannt. Er zeugt nicht etwa von einer goldenen Auenlandschaft, wie man meinen könnte. Vielmehr stammt er vom keltischen Wort «golet», was so viel wie «Schutt» bedeutet.
Wanderung durchs Bergsturzgebiet
Vom Bahnhof Arth-Goldau aus führt eine abwechslungsreiche Wanderung durch das Bergsturzgebiet, das heute ein kantonales Pflanzenschutzreservat ist. Um die «Goldauer Bergsturzspur» zu absolvieren, sollte man dreieinhalb Stunden Marschzeit einkalkulieren. Besonders schön ist die Rundwanderung im Frühsommer, wenn die zahlreichen Orchideen am Wegesrand in voller Blüte stehen.