Belle-Époque
«Als die Schnellzüge in Rodi-Fiesso stoppten» - von Omar Gisler
Dass Rodi-Fiesso als Kur- und Ferienort einst ebenso bekannt war wie St. Moritz, ist heute schwer vorstellbar. Während der Belle Époque stoppten hier die Schnellzüge, und Promigäste gaben sich in den Hotels die Klinke in die Hand.
Googelt man den Begriff «Rodi-Fiesso», dann poppen zuerst Informationen über den Dazio Grande auf. Damit deckt sich die heutige Wahrnehmung des Ortes mit derjenigen, die bis weit ins 19. Jahrhundert vorherrschend war: Rodi-Fiesso war gleichbedeutend mit dem grossen Zollgebäude, dem Dazio Grande, das sich je nach Standpunkt am Eingang respektive Ausgang der Piottino-Schlucht befindet. Errichtet wurde die Sust 1561 von den Urnern, die auch einen Saumweg durch die Schlucht bauten – es war die vielleicht rentabelste Investition in der Geschichte des Kantons. Bis zu dreissig Prozent der Erträge Uris wurden einst am Dazio Grande generiert. «Der Zoll zu Dazio», notierte der Berner Aufklärer Karl Viktor von Bonstetten 1795, «ist das grösste und beinahe einzige Einkommen, das Uri aus dem Liviniental zieht.»
Darüber hinaus beeindruckten von Bonstetten bei seiner Inspektionsreise in die ennetbirgischen Vogteien auch die Naturgewalten. Die Piottino-Schlucht beschrieb er als «Felsenschlund, in dem die zerrissenen Felsstücke wie Zähne eines offenen Rachens gegen einander stehen». Der Schriftsteller Carl Spitteler wiederum war 1894 begeistert vom Naturspektakel in der engen Schlucht: «Hier ist ein grossartiges Chaos, in welchem die Natur kunterbunt durcheinanderwirbelt.» Der Literatur-Nobelpreisträger war in Rodi-Fiesso aus dem Zug gestiegen und nach Faido gewandert. Sein Fazit: «Ein Glanzpunkt des Gotthardgebirges und die grossartigste Partie des Tessintals.»
Vom Sumpf zur Tourismusdestination
Dass die Piottino-Schlucht zu einer Attraktion avancierte, ist auf die 1882 eröffnete Gotthardbahn zurückzuführen, die die Felsenkluft in eleganten Kehrtunnels überwindet und der Passage so ihren Schrecken nahm. Eng mit der Eisenbahn verbunden ist auch das Konstrukt Rodi-Fiesso. Auf der Ebene entlang des Flusses Ticino, die als Standort für eine Haltestelle auserkoren wurde, gab es während Jahrhunderten nur einen Sumpf und ein paar Hütten, die sich um eine Kirche scharten. Niemand ahnte damals, dass Rodi-Fiesso dank der Gotthardbahn zu einer Topdestination aufsteigen würde. Niemand? Stimmt nicht ganz. Der Anwalt Bianchi hatte das Potenzial schon früh erkannt, welches der Ort bot, der sich mitten auf der Achse Neapel-London befindet und dank der Bahn gut erreichbar war. Im Sommer 1885 vermietete er erstmals Zimmer an Gäste aus Lugano. Es war der Beginn einer erstaunlichen Entwicklung.
Die schönen Wanderungen zum Tremorgio- oder zum Ritom-See, die Piottino-Schlucht, hübsche Bergdörfer wie Catto, Ronco oder Altanca sowie die gesunde Luft würden von den Gästen sehr geschätzt, hielten Zeitgenossen fest. Tatsächlich avancierte Rodi-Fiesso bald einmal zu einem Promi-Ort: Prinzessin Letizia, die Gräfin von Aosta, stieg 1903 im Hotel Rodi ab. Später folgten die italienischen Senatsabgeordneten Filippo Turati und Giovanni Villa, die ebenfalls im Hotel Rodi residierten. Sie hatten Glück: Andere Gäste gingen leer aus – denn oft waren sämtliche Hotels und Ferienzimmer in der Region ausgebucht. Ein Dauergast war der 1867 in Lugano geborene Guglielmo Apostoli, dessen Vater kein Geringerer als der italienische König Vittorio Emanuele II. war. Er baute sich 1895 mitten im Dorf eine Villa. «Wer einmal kommt, ist derart begeistert, dass er im nächsten Sommer zurückkehrt», jubelte die Lokalpresse.
Selbstbewusst gaben sich auch die Verantwortlichen des Gastgewerbes. «Alle haben Interesse, die schöne Jahreszeit in Rodi-Fiesso zu verbringen: die Gesunden, um gesund zu bleiben; die Schwachen, um wieder zu Kräften zu kommen. Mittlerweile sind das kraftspendende Klima und die reine Luft weitherum bekannt», kann man in einem Inserat aus dem Jahre 1904 lesen, das im Telegrafenstil noch weitere Vorzüge der Region auflistet: «Bezauberndes Panorama, 950 m ü.M., schöne Spaziergänge, ruhiger Aufenthalt, Hotels, Pensionen, Wohnungen und Zimmer verfügbar. Elektrisches Licht, fliessendes Wasser, aller Komfort. Bahnhof.» Diese Argumente reichten damals, um Gäste aus dem In- und Ausland anzulocken. Rodi-Fiesso war eine derart gefragte Destination, dass ab 1905 sogar die Schnellzüge hier Halt machten.
Das Ende der Erfolgsgeschichte
Der Erste Weltkrieg setzte dem Boom ein jähes Ende. «Die reichen Mailänder kamen nicht mehr in die Leventina», resümiert der Historiker Fabrizio Viscontini. «Der Hauptgrund lag vermutlich im Zeitgeist. Viele Italiener zog es nun ins Trentino, das nach dem Ersten Weltkrieg italienisch wurde. Ab 1918 wurde dort massiv in die touristische Infrastruktur investiert.»
Entlang der Gotthardlinie wurde ebenfalls investiert, aber nicht in den Fremdenverkehr, sondern vielmehr in die Stromproduktion. Mit der Elektrifizierung des Bahnnetzes wollte sich die Schweiz von der Abhängigkeit von ausländischen Kohlelieferungen lösen. Das hatte auch Auswirkungen auf Rodi-Fiesso: Zwecks Stromgewinnung wurde der Tremorgio-See angezapft und der Wildbach Lagasca in Röhren umgeleitet. Kurz darauf wurde beim Bahnhof ein künstlicher See gebaut, um die Kapazität des Piottino-Kraftwerks zu erhöhen. Diese Wassernutzungen führten dazu, dass der Ticino in der Piottino-Schlucht auf ein Rinnsal reduziert wurde. Rodi-Fiesso wiederum verkam nach und nach zu einem trostlosen Ort an der Gotthardlinie. Inzwischen hält längst kein Zug mehr in dem Dorf, das nur noch wegen dem Dazio Grande (ein wenig) bekannt ist.
Essen & Träumen
Der Dazio Grande ist in eine Gaststätte umgewandelt worden, wo man übernachten und gut essen kann. Er ist ein idealer Ausgangspunkt, um die Umgebung zu erkundigen.
Erkunden
Empfehlenswert sind ein Spaziergang durch die Piottino-Schlucht oder eine Fahrt mit der Kraftwerksseilbahn zum Tremorgio-Stausee.
Bilderreise in die Vergangenheit
Die Vergangenheit von Rodi-Fiesso ist im Buch «Il villaggio ai piedi della Lagasca» dokumentiert. Das 2012 im Salvioni-Verlag erschienene Werk zeigt den Wandel von landwirtschaftlich geprägten Weilern zu einem Kurort der Belle Époque anhand von über 230 Fotografien auf. Dadurch ist das Buch auch für Leute interessant, die nur rudimentäre Kenntnisse der italienischen Sprache haben.